Bénédicte Savoy im Interview

„Ich habe ein Gespür für Lügen“

Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy kämpft für die Rückgabe kolonialer Raubkunst aus europäischen Museen. Ein Gespräch über das Knirschen im Humboldt Forum, den Kunstraub unter Napoleon und Afrikas unsterbliche Objekte

Von Simone Sondermann & Lisa Zeitz
21.05.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 185

Sie sind eine der prominentesten Stimmen für die Restitution von kolonialer Raubkunst aus europäischen Museen. Empfinden Sie derzeit Optimismus?

Ja, ganz eindeutig. Die vergangenen Monate geben mir Anlass zu Optimismus, weil es die gerade sehr aktuelle Debatte um die eventuelle Rückgabe afrikanischer Kulturgüter, also Kulturgüter aus der Region südlich der Sahara, die während der Kolonialzeit nach Europa gekommen sind, schon einmal gab. In den 1970er-Jahren. Dann haben wir das komplett vergessen. Jetzt poppt es wieder auf, und zwar mit einer Wucht, die mich zuversichtlich macht, dass es nicht noch einmal vergessen wird.

Ihr jüngstes Buch heißt „Afrikas Kampf um seine Kunst“ und hat den Untertitel „Geschichte einer postkolonialen Niederlage“. Darin arbeiten Sie die Restitutionsdebatte in den 1970er-Jahren auf. Wie kam es zu dieser ersten Debatte über das Thema?

In vielen Region des globalen Südens wächst in den Siebzigern ein starkes Bedürfnis, den Kontakt zur eigenen materiellen Kultur wiederherzustellen. Das wird vor allem in Afrika sehr früh und sehr schön formuliert, als eine Art „Kraftnahrung für die Gestaltung der Zukunft“. Im Jahr 1960 werden viele vor allem französische Kolonien „in die Unabhängigkeit entlassen“ beziehungsweise sie erkämpfen sich diese, auch blutig. In diesem Kontext wird der Wunsch formuliert, etwas vom eigenen Kulturgut zurückzubekommen. Natürlich nicht alles. Das war eine wichtige Erkenntnis für mich: Die ersten Äußerungen zu Restitutionen waren Wünsche, keine Forderungen. Und sie waren eher bescheidene Wünsche. Nigeria möchte 1972 von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz einige wenige Dauerleihgaben für ein zu bauendes Museum in Benin City haben. Es wird argumentiert: Wir sind auch ein Teil der Weltgeschichte. Wir haben auch Anteil an der Schöpfung des Schönen. Wir dürfen jetzt wieder die große historische Bühne betreten und deshalb möchten wir Museen haben, um dies sowohl nach innen als auch nach außen zu zeigen.

Wie war die Reaktion in Europa auf diese Wünsche?

Die Anfragen werden oft nicht beantwortet. Und wenn es eine Antwort gibt, ist sie fast immer juristisch. Etwa im Fall der Benin-Bronzen, die Nigeria als Nachfolgestaat des Edo-Reichs, wo diese Bronzen bei einer Strafexpedition der Briten 1897 geplündert wurden, beansprucht. Da lautete die Antwort aus West-Berlin damals: Wir haben das auf dem Kunstmarkt in London legal erworben. Wir haben das nicht selbst geplündert. Also seien der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Hände gebunden. Eine andere Art der Antwort der Museen in Europa ist eine sehr nationalistische. Nicht unbedingt nach außen, aber in den internen Briefwechseln und Gremien heißt es deutlich und gut dokumentiert: Museen messen sich an ihrer Größe und der Vollständigkeit ihrer Sammlungen. Gibt man, etwa in West-Berlin, drei, vier, fünf Benin-Bronzen ab, verliert man in der Konkurrenz zu London und Paris. Und: Man verliert gegenüber Ost-Berlin. Ost-Berlin hatte die Museumsinsel, West-Berlin hatte gerade den Museumskomplex in Dahlem ganz neu aufgebaut, als Schaufenster des musealen Westens. Das waren keine redlichen Argumente. Das haben auch Befürworter der Restitution in der damaligen Zeit in der Politik, einige CDU-Abgeordnete oder Hildegard Hamm-Brücher, die Grande Dame des westdeutschen Liberalismus, so gesehen.

Bénédicte Savoy
Bénédicte Savoy auf der Museumsinsel in Berlin. © Peter Rigaud

Das heißt, es ist am Widerstand der Museen gescheitert? Oder warum ist die Debatte am Ende versandet?

Es ist für Historikerinnen und Historiker immer schwierig zu sagen, warum etwas nicht funktioniert hat. Man kann Debatten rekonstruieren, in Archiven, auch in denen von Ministerien beispielsweise, man kann sogar Telefonate rekonstruieren, weil sie oft protokolliert wurden. Als ich anfing zu recherchieren, hatte ich die Idee, dass es starke Lobbys gegeben haben muss, die damals gegen das Projekt der Restitution waren. Diese Lobbys haben ich anfangs im Bereich des Kunsthandels gesucht. Ich dachte, dort muss es Menschen gegeben haben, die ein starkes Interesse daran hatten, dass nichts in Richtung Restitution passiert. Doch solche Quellen habe ich nicht gefunden. Was ich ge­funden habe, war aus meiner Perspektive erschütternder: ein organisierter Widerstand in den Museen gegen die Forderungen aus dem globalen Süden, der von den Akteuren als „Abwehrkampf“ beschrieben wurde, also mit sehr militärischen Metaphern. Und nach zwei Jahrzehnten des Bittens, Wünschens, später auch Forderns waren die afrikanischen Verantwortlichen schließlich so frustriert, dass sie aufhören zu fragen. Die Hoffnung versiegt. Parallel dazu schmelzen in den 1980er-Jahren die Kulturbudgets der afrikanischen Mittelschicht aufgrund globaler Konstellationen, und es beginnt eine starke Emigration afrikanischer Intellektueller.

Ein früheres Forschungsprojekt von Ihnen war der Kunstraub unter Napoleon. Was auffällt: Die Argumente gegen eine Restitution nach Afrika in den 1970ern und zum Teil noch heute ähneln denen der Franzosen unter Napoleon, als es um die Rückgabe von erbeuteten Werken nach Deutschland ging.

Im Jahr 1815, als Frankreich durch die Alliierten gezwungen wird, das Kulturerbe, das man seit den Revolutionskriegen aus Italien, dem heutigen Belgien, den heutigen Niederlanden oder dem deutschsprachigen Raum zentral nach Paris verbracht hat, zurückzugeben, entsteht eine sehr spannende Debatte, mit Leuten wie Stendhal, Goethe, den Humboldt-Brüdern, um nur einige zu nennen. Da ging es um Fragen wie: Geben wir eine Bibliothek aus dem Rheinland nach Bonn zurück oder nach Preußen? Denn Bonn war nun preußisch. Oder es kommt das Argument: Die Deutschen können ihr Kulturerbe nicht pflegen, die verwahren ihre Cranachs und ihre Dürer im Stroh, in Paris hingegen gibt es die guten Museen. Dort sind die Werke öffentlich zugänglich. Das ähnelt sehr den Argumenten bei der Debatte zur kolonialen Raubkunst. Um 1900 kommt noch das Wissenschaftsargument hinzu: Wir werden die afrikanischen Objekte erforschen. Während die Völker „da unten“ sie nur benutzen und dann verkommen lassen. Die Wissenschaft dient also der Legitimation. Nur leider wurden die Objekte sehr oft noch nicht einmal ausgepackt. So viel Wissenschaft hat also gar nicht stattgefunden.

Sie vergleichen das Vergessen der Restitutionsdebatte in Ihrem Buch mit der Klimadebatte, wo auch schon in den späten 1970er-Jahren viele Fakten bekannt waren. Glauben Sie an Fortschritt in der Wissensentwicklung? Oder verläuft diese in Wellen? Wie kann es sein, dass in so existenziellen Fragen wie dem Kulturgut des afrikanischen Kontinents oder auch der Klimakrise Wissen verloren geht?

Im Fall Afrikas ist es keine Wellenbewegung, sondern ein Bumerang. Etwas, das weit weggeworfen wurde und nun mit zehnfacher Schleuderkraft zurückkommt. Die Debatte in der Presse, in den öffentlichen Medien in den Siebzigern war auf sehr hohem Niveau. Die, die wir heute haben, ist auch gut, aber vielleicht nicht so gut wie damals. Ich sehe da keinen Fortschritt, weil wir wieder bei null angefangen haben.

Ein emotionales Argument, das man heute von Gegnern von Restitutionen nach Afrika häufig hört, ist die Angst vor dem leeren Museum. Wenn man die Entscheidung über den Verbleib der Objekte komplett den afrikanischen Playern überlassen würde: Was, glauben Sie, würde passieren?

Ich antworte mit einer Geschichte. Als ich angefangen habe, mit Felwine Sarr zum Thema Restitution zusammenzuarbeiten, haben wir Museumsdirektorinnen und -direktoren, Künstlerinnen und Intellektuelle in Dakar versammelt, um zu hören, wie sie die Situation sehen. Die erste Frage von einem Kollegen aus Kamerun war: Wenn ihr uns Objekte zurückgebt und ihr habt dann leere Sockel – was wollt ihr von uns im Gegenzug haben? Wäre zeitgenössische afrikanische Kunst interessant? Was ich damit sagen will: Wir haben in Europa in dieser Debatte sehr viele Befürchtungen, sehr viele Verkrampfungen, eine Aura der Angst. Und auf der afrikanischen Seite ist die Reaktion konstruktiver und voller guter, gestalterischer Energie. Ich mache mir überhaupt keine Sorgen über Lücken oder darum, wie wir sie füllen. Weil die Partner auf der anderen Seite Ideen haben und weil Museen, das wissen wir seit 200 Jahren, nie leer sind. Als Frankreich 1815 alles zurückgeben musste, war der Louvre eineinhalb Jahre etwas leerer, dann kamen Stücke aus Amerika, aus Ägypten, aus Mesopotamien. Museen füllen sich – und wenn es mit alten Computern oder Turnschuhen ist.

Sie haben 2018 im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gemeinsam mit dem senegalesischen Wissenschaftler Felwine Sarr einen Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter aus französischen Museen verfasst, der international Aufsehen erregt hat. Was hat sich in Frankreich seitdem getan?

Am Tag der Abgabe hat Emmanuel Macron immerhin die Rückgabe von 26 Objekten in die Republik Benin offiziell angekündigt. Das war ein enormer Schritt. Denn das sind große anthropomorphe Statuen, königliche Statuen, die im Zentrum der Inszenierung im Musée du quai Branly stehen. Sie sind das Herz dieses Museums. Aber dann passierte nichts. Denn in Frankreich sind Objekte in Museen unveräußerlich. Es musste ein neues Gesetz durch die Nationalversammlung her. Das hat zwei Jahre gedauert. Im Dezember 2020 wurde per Gesetz einstimmig beschlossen, dass diese 26 Werke zurückgehen können. Ich dachte früher immer, ich sterbe, bevor Frankreich irgendeinen Schritt in diese Richtung macht. Unsere Empfehlung im Restitutionsreport war, das Gesetz über das nationale Kulturerbe grundsätzlich zu ändern. Jetzt ist es erst mal nur ein Extragesetz über die 26 Objekte, für weitere Forderungen wird es wieder ein Sondergesetz geben müssen. Das ist nicht optimal.

Sind diese 26 Objekte schon in Afrika angekommen?

Nein. Sie sind noch in Paris. Sie sollen in diesem Herbst zurückgehen. In der Republik Benin wird ein großes Museum gebaut, ich denke, die Objekte werden dorthin kommen. Wenn man sich noch mal an die Restitution unter Napoleon erinnert: Das erste öffentliche Museum in Preußen gibt es erst seit 1830, das heutige Alte Museum in Berlin. Dieses Museum ist nur entstanden, weil Frankreich die Kunstwerke 1815 zurückgeben musste. Das heißt, es hat 15 Jahre gedauert, bis sich die Berliner im Klaren waren, was sie für ein Museum haben wollen, mit welchem Konzept. Wenn man daran denkt, versteht man besser, dass es heute dauert, bis sich die afrikanischen Länder organisiert haben, um die Objekte aufzunehmen.

Nicht nur Ihr Restitutionsreport war ein Paukenschlag, sondern auch Ihr medienwirksamer Rückzug aus der Expertenkommission des Humboldt Forums 2017. Sind Sie diejenige, die der Restitution kolonialen Raubguts die entscheidenden Impulse gegeben hat?

Es gibt viele Aktivisten, die schon seit 2010 gegen das Humboldt Forum protestieren. Diese haben einen großen Druck aufgebaut. Und als ich kam, war meine Rolle nur diese (macht eine Geste): die Cola-Dose zu öffnen. Das ist nicht viel. Aber es hat offenbar gereicht, um das Ganze explodieren zu lassen. Wenn es diesen Druck nicht schon gegeben hätte, würde alles, was ich mache, keine Rolle spielen. Beim Restitutionsreport war es gut, dass wir als Tandem gearbeitet haben. Ein Mann, eine Frau, jemand aus Europa, jemand aus Afrika. Felwine Sarr, der sich mit der Zukunft Afrikas beschäftigt, und ich, die sich seit 20 Jahren mit der Aneignung von Kulturgütern und der Museumsgeschichte befasst. Das war eine gute Kombination.

Haben Sie je bereut, dass Sie aus der Expertenkommission ausgetreten sind?

Nein! Überhaupt nicht.

Nie der Gedanke, dass Sie von innen mehr hätten ausrichten können?

Das habe ich ja versucht. Ich habe vor meinem Austritt in allen möglichen Tonlagen, ob bei Treffen auf dem Flur, beim Kaffeetrinken oder im Rahmen der Kommission und bei Vorträgen, immer dasselbe gesagt.

Nach Ihrem Austritt haben Sie das Humboldt Forum mit Tschernobyl verglichen.

Das war richtig und mit Bedacht. Ich bereue das überhaupt nicht. Vor allem, wenn man die weitere Entwicklung sieht. Es wird ja nicht besser.

Sie bringen in Ihrem Buch das Mauern der Museumsdirektoren in den 70er-Jahren mit deren NS-Vergangenheit zusammen. Jetzt ist eine andere Generation am Ruder. Dennoch wurde in puncto Restitution weiter viel gemauert. Gibt es jetzt einen Sinneswandel?

Ich habe darauf zwei Antworten. Schon in den Siebzigern haben sich Frauen oft anders positioniert. Ich habe den Eindruck, dass die Präsenz von Frauen an der Spitze von Museen heute, wie Nanette Snoep im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum, Léontine Meijer-van Mensch in Leipzig und Dresden, Barbara Plankensteiner in Hamburg oder Inés de Castro in Stuttgart, etwas verändert hat. Man kann sicher keine Regel daraus ableiten, aber: Es scheint so zu sein, dass es Frauen leichter fällt als Männern, eine ­Empathie zu Menschen zu entwickeln, die schlecht behandelt oder gedemütigt werden. Möglicherweise weil Frauen in ihrer Geschichte selbst solche Erfahrungen gemacht haben. Da gibt es, sehr übertrieben ausgedrückt, eine Solidarisierung der Opfer. Die zweite Antwort ist: Es ist evident, dass die Akteure heute keine Nazivergangenheit mehr haben. Schon damals kamen die ersten 68er in Leitungspositionen. Aber es sind auch die Institutionen selbst, die einen Atavismus haben, der nichts mit den Personen zu tun hat, die heute etwa das Humboldt Forum leiten, wie Hartmut Dorgerloh oder Lavinia Frey, die ich sehr schätze. Aber wenn eine Institution wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in den Fünfzigerjahren von Juristen gegründet wurde, die in der Nazizeit Karriere gemacht haben, ist eine Struktur, ein Stil, eine Haltung entstanden. Diese besteht seit 1957 weiter, ohne dass sich die Institution aktiv mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt hätte. Die Deutsche Bank etwa oder das Finanzministerium haben das gemacht, da wurden Kommissionen einberufen etc., um sich studieren zu lassen. Dann kann man sich von der eigenen Geschichte distanzieren. Wenn das ausbleibt, verharrt eine Institution in der Kultur des Maulkorbs, des Nicht-Rausgebens von Informationen, der starren Hierarchien, der Angst. Die Institution hat die schrillen Alarmsignale zur Notwendigkeit einer Dekolonisierung seit 2013 überhört und fährt seit zehn Jahren auf die Wand zu. Und jetzt ist die Wand da.

Was meinen Sie damit?

Am 10. Mai ist ein neues Buch des Holocaust-Forschers Götz Aly zum Südseeboot erschienen, „Das Prachtboot“ …

… über das große Luf-Boot aus Ozeanien, das als Prunkstück im Humboldt Forum präsentiert werden soll?

Ja. Das ist eine Bombe. Weil Aly klarmacht, dass dieses Objekt nicht freiwillig nach Berlin hergegeben wurde, wie man bisher angenommen hat. Es gehörte einem Volk, das die deutsche Kolonialmacht ausgerottet hat. Das schreibt ein angesehener ­Holocaust-Forscher, also ein Historiker, der spezialisiert ist auf die Geschichte der Vernichtung anderer Völker. Götz Alys Urgroßonkel war selbst bei dieser Kolonialgeschichte in der Südsee dabei.

Ende April haben die deutschen Museumsdirektorinnen und -direktoren gemeinsam mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters offiziell beschlossen, die Benin-Bronzen zurückzugeben. Was sagen Sie dazu?

Ich stelle fest, dass die Zivilgesellschaft mit ihrem zunehmenden Bedürfnis nach Aufklärung der kolonialen Vergangenheit und die Wissenschaft, die in den letzten Jahren sehr intensiv daran gearbeitet hat, historisch belegte Fakten zur Sammlungsgeschichte von Museen in Archiven freizulegen und zu publizieren, sich am Ende durchgesetzt haben. Niemand würde jetzt mehr von „Sommerlochdebatte“ oder von „postkolonialen Sponti-Aktionen“ sprechen, wie es die Stiftung Preußischer Kulturbesitz über Jahre getan hat. Demut ist auch eine Haltung.

Wie wird es weitergehen mit dem Humboldt Forum?

Ich glaube, das Humboldt Forum, also das Schloss, wurde von Menschen gewollt, die die ehemaligen Hohenzollern-Räume darin haben wollten. Diese Menschen sind sowieso enttäuscht, denn wenn man jetzt hineingeht, gibt es Rolltreppen und diese Kunst, die da nichts zu suchen hat. Ich glaube, irgendwann wird sich das Humboldt Forum entscheiden müssen, tatsächlich solche historischen Räume zu rekonstruieren. Denn das Megaknirschen, das es jetzt gibt, funktioniert vorne und hinten nicht. Ich glaube nicht, dass das Humboldt Forum mit den ethnologischen Sammlungen eröffnen kann. Die Benin-Bronzen sind jetzt in aller Munde. Als Nächstes kommt das Prachtboot. Aber auch die berühmten „Turfan“-Höhlen sind ein Beispiel rabiater Wissenschaftspraxis. Sie stammen aus der Region, wo die Uiguren leben. Deutsche Forscher haben 1914 die Malereien aus diesen reich dekorierten Höhlen abgekratzt und in Hunderten von Kisten nach Berlin abtransportiert, das ist alles dokumentiert und wissenschaftlich publiziert, auch wenn die Öffentlichkeit kaum darüber Bescheid weiß. Vielleicht kommt bald das nächste populäre Buch über die „Höhle der ringtragenden Tauben“. Mit jeder neuen Erkenntnis wird es weniger möglich, die Öffentlichkeit für die ethnologischen Sammlungen im Humboldt Forum zu begeistern.

In der Restitutionsdebatte verschärft sich derzeit der Ton. So hat etwa der Kunsthistoriker Jürgen Zimmerer die Verbrechen des Kolonialismus mit dem Holocaust in Beziehung gesetzt. Können Sie verstehen, dass das Abwehrmechanismen hervorruft?

Ja. Andererseits darf man unangenehme, historisch belegte Fakten nicht verwechseln mit denjenigen, die solche Fakten freilegen und publizieren. Also den Überbringer der Botschaft mit der Botschaft. Zimmerer und sein Team machen solide Forschungsarbeit an der Universität Hamburg. Im Spiegel ist die Debatte kürzlich als eine „Ansammlung von Schreien“ beschrieben worden. Das ist bestimmt nicht gut. Aber es ist auch ein Ergebnis der Arroganz von Museen und Stiftungen, die sich jahrelang der Diskussion nicht stellen wollten. Die Gegner von Restitutionen haben in den vergangenen Jahren keine positiven Argumente formulieren können. Wenn etwa das British Museum mich beauftragen würde, ein Plädoyer für das Museum zu schreiben, hätte ich Argumente pro Museen. Doch wo hat sich mal eine Stimme erhoben, die begründet hat, warum diese Objekte in den europäischen Museen am richtigen Platz sind? Mir ging es ursprünglich gar nicht um Rückgaben, sondern um Transparenz der historischen Fakten. Ich habe mich vor zehn Jahren intensiv mit dem Fall Nofretete befasst. Die Frage, ob sie restituiert werden soll, würde ich nach wie vor eher mit Nein beantworten. Bei den Werken aus Afrika liegt der Fall anders. Da gibt es Raub, Erpressung, sogar Leichenfledderei, zum Teil in Fotos dokumentiert.

Erkennen Sie an, dass man in den europäischen Museen den Objekten huldigt und sie auf eine Stufe mit der europäischen Kunst stellt? Oder sehen Sie nur das Unrecht?

Ja, im Musée du quai Branly sieht man diese Form der Huldigung. Sogar der Sakralisierung. Jetzt hat Jean Nouvel neue Vitrinen gebaut, die sollen die Objekte in einen magischen Halo hüllen, die Vitrinen selbst heißen „Aura“, das ist wirklich erstaunlich. Ich sehe die Geste. Aber ich finde nicht, dass es eine Huldigung ist in dem Augenblick, wo es auf der anderen Seite Menschen gibt, die sagen: Was macht ihr mit unserem Kultur­erbe? Und leider höre ich jetzt diese Stimmen. Ich sehe mit der Anwesenheit eines Objektes in einem Museum jetzt immer auch die Abwesenheit. Es ist mein Beruf, das beides zu sehen. Ich war mit Felwine Sarr im Palast von Abomey, einem UNESCO-Welterbe, einem großen Areal mit leeren Gebäuden. Direkt danach sind wir nach Paris geflogen, weil wir einen Termin im Musée du quai Branly hatten, dort haben wir dann die Objekte aus Abomey gesehen. Ich habe das also physisch sehr stark erfahren, innerhalb von 24 Stunden. Diese Möglichkeit haben die Menschen aus Cotonou nicht.

Was treibt Sie persönlich an?

Ich habe ein starkes Gespür für Lügen. Dafür, wenn etwas nicht stimmt. Wie bei Familiengeheimnissen. Als ich mich etwa mit der Nofretete beschäftigt habe, wurde mir gesagt, dass die Akte zur Nofretete beim Umzug zwischen Charlottenburg und dem Neuen Museum verloren gegangen ist. Da dachte ich: Oh! Das kann nicht sein. Also habe ich in Paris gesucht und Dokumente zu den Ausfuhrverhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich gefunden. Seitdem weiß ich: Man kann in den Sackgassen der Quellen immer etwas finden. Das treibt mich an. Dinge, die komisch klingen, aufzudecken.

Eine detektivische Arbeit?

Ja, oder eine psychoanalytische. Man spürt ein Unbehagen und arbeitet, bis man versteht, warum es unbehaglich ist.

In jüngster Zeit kommt auch die Sprache, mit der wir über die afrikanische Kunst reden, auf den Prüfstand. Ein Begriff wie Tribal Art etwa. Was denken Sie darüber?

Die Terminologie macht vermutlich einen Großteil des Problems aus. Es ist nicht nur die Frage, ob man von Objekten oder Kunstwerken spricht. Für viele sind es ja Subjekte. Es sind keine leblosen Dinge in den Vitrinen, sondern sehr starke Persönlichkeiten. Sie haben eine Kraft, sie machen etwas, können performen. Redet man also einfach von Inventarnummern? Oder von Subjekten, die länger leben als wir und uns in den Museen anschauen? In dieser Vorstellung sind die Besucher die Sterblichen und die sogenannten Objekte betrachten von Generation zu Generation diese Sterblichen und sind so die eigentlich unsterblichen Subjekte.       

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