Wettstreit der Extravaganz

Made in Chantilly

Eine Ausstellung in Schloss Chantilly erinnert daran, wie die französische Porzellanmanufaktur einst mit Meissen konkurrierte. Beide wollten die Vorbilder aus Fernost übertreffen und trieben den Luxus auf die Spitze. Eine spannende Geschichte, die viel über die Geschmacksbildung und neue Wirtschaftsformen im Rokoko erzählt

Von Sebastian Preuss
19.05.2021
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 178

Extravaganz ist ein Begriff, der umso mehr verblasst, je breiter er seinen Widerhall in der Wirklichkeit erlebt. Denn wie extravagant, also kapriziös, verrückt, eigensinnig auf Marotten beharrend ist die Extravaganz noch, wenn fast jeder, der etwas auf sich hält, extravagant sein will? Wenn die Extravaganz zum Normalzustand wird. Solche Gedankenspiele können einen befallen, wenn man sich mit der höfischen Kultur des 18. Jahrhunderts beschäftigt, besonders mit der in Frankreich, wo die Explosion des Luxus unter Ludwig XIV. so gewaltig und zugleich staatstragend war, dass sich ihr niemand entziehen konnte, der seine Macht und seine gesellschaftliche Stellung behalten wollte. Das Grandiose, die Dressur der Natur zum grafischen Ornament, das Artfizielle, all das Außergewöhnliche und Staunenswerte, das der Sonnenkönig in Versailles voller Kalkül zelebrierte, schlug die Menschen so sehr in Bann, dass bald ganz Europa vom Willen zur Extravaganz erfasst wurde. Sie wurde Statussymbol.

August der Starke in Dresden, ein Kerl mit Bärenkräften und energischen Machtgelüsten, war gewiss extravagant, wenn er stolz Tausende zarter Porzellane im Japanischen Palais am Elbufer als selbst erfundenes Welttheater vorführte. Und Louis Henri de Bourbon, Prinz von Condé, war nicht weniger kapriziös, wenn er seinen Pferden in Chantilly einen Stall wie ein Schloss errichtete, dessen Gewölbe so gewaltig wie in einer Kathedrale sind. August (1670–1733) und Louis Henri (1692–1740) waren Zeitgenossen, die sich nie persönlich trafen. Aber sie verband der Porzellanvirus, die Freude an der ostasiatischen Kunst und der Wille, sehr viel Geld für Kunst, Luxus sowie die Einrichtung von Schlössern und Prachtappartements auszugeben.

Porzellanvögel Meissen
So etwas wie die Meissener Porzellanvögel des Modelleurs Johann Joachim Kändler hatte Europa noch nicht gesehen, 1732 bis 1750, in der Ausstellung von Peter Marino voller Raffinesse und Glamour inszeniert. © ctanierephotographie

Eine Ausstellung, die schon in ihrem Thema alles andere als Mainstream ist, bringt jetzt die beiden Porzellanfreaks im Schloss von Chantilly zusammen, das rund 50 Kilometer nördlich von Paris liegt. „Die Manufaktur der Extravaganz. Porzellan aus Meissen und Chantilly“ heißt die Schau, und der Titel verspricht nicht zu viel. Dafür sorgte auch der Interior Designer Peter Marino, der die grands appartements zur Bühne einer theatralischen, aber zugleich subtilen, nie die Raumkunst des 18. Jahrhunderts störenden Inszenierung der fragilen Stücke machte.

Die Ausstellung ragt aus den üblichen Präsentationen von Kunsthandwerk heraus, weil sie schwelgerische Augenlust mit kunsthistorischer Akkuratesse verbindet. Und sie macht deutlich, dass es hier nicht um einen verschrobenen Nebenaspekt geht, sondern um ein wichtiges Thema zum Verständnis des 18. Jahrhunderts. Das Porzellan, das seit der Entdeckung der Zusammensetzung durch Johann Friedrich Böttger 1708 – nach 200-jährigem vergeblichem Bemühen, es China und Japan gleichzutun – auch in Europa hergestellt werden konnte, war die große Kunstinnovation der Epoche. Die nach Böttgers Durchbruch 1710 gegründete Manufaktur in Meissen war der Vorreiter, und es ist immer wieder erstaunlich zu verfolgen, in welcher Geschwindigkeit hier die Herstellungstechnik und die Qualität der Stücke verbessert wurden.

Künstlerpersönlichkeiten, die an die Elbe kamen, machten Meissen zum weithin ausstrahlenden kreativen Zentrum: Johann Gregorius Höroldt, der die Porzellanmalerei mit seinem Stil revolutionierte; der hochbegabte Maler Adam Friedrich von Löwenfinck (der später auch einige Jahre in Chantilly arbeitete); die Modelleure Johann Gottlieb Kirchner und vor allem Johann Joachim Kändler, der mit seinen schier unerschöpflichen Figurenerfindungen das neue Material zum Medium vieler der schönsten Skulpturenschöpfungen der Epoche erhob.

Japanische Vase Chantilly
Wie in Meissen orientierte man sich in Chantilly die Formen und Malereien des Porzellans an japanischen Vorbilder, wie bei diesem Flaschenkühler, der um 1735 in der französischen Manufaktur entstand. © Jean Tholance/MAD Paris

August der Starke, sächsischer Kurfürst, seit 1697 auch König von Polen und Großfürst von Litauen, war ungeheuer stolz auf das Meissener Porzellan und setzte es zur Demonstration seiner Macht genauso ein wie als Wirtschaftsfaktor. Seine Leidenschaft für die Keramikkunst entbrannte angeblich 1709, als er auf einer Reise nach Brandenburg die Porzellankabinette in den Schlössern Oranienburg, Charlottenburg und Caputh sah. In 25 Jahren erwarb er rund 25 000 Stücke aus China und Japan, die damals zu den kostbarsten Luxusartikeln gehörten. Im Holländischen Palais in Dresden, später im nie vollendeten Japanischen Palais ordnete er die Porzellane nach Formen und Farben und konnte sicher sein, dass seine Gäste aus dem Staunen nicht mehr herauskamen.

Die fragilen und aufwendig bemalten Objekte aus Fernost nutzte August auch als Inspirationsquelle und Ansporn für die Meissener Manufaktur, wo man in den späten 1720er-Jahren tatsächlich einen solchen Standard erreichte, dass selbst Kenner zuweilen die sächsischen und asiatischen Porzellane nicht mehr voneinander unterscheiden konnten. Das galt vor allem für den luftigen, grafisch sehr reizvollen „Kakiemon“-Stil des Arita-Porzellans. Hier entwickelte Meissen höchste Virtuosität. Sie gipfelte darin, dass der Luxushändler Rodolphe Lemaire die damals noch auf die Glasur gemalten Schwertermarken abkratzen ließ und Pariser Sammlern die Stücke als Originale aus Japan verkaufen konnte.

Chinesen aus Chantilly
Zwei chinesische „Pagoden“ aus der Manufaktur Chantilly, um 1735/40. © ctanierephotographie

Hier kommen Meissen und Chantilly zusammen. Louis Henri de Bourbon war wie August der Starke der Chinamode, dem eleganten Geschmack Japans mit seinen reduzierten Dekorationen und kostbaren Lackmöbeln verfallen. Mit der Sammellust des Kurfürsten in Dresden konnte er sich nicht messen, auch wenn er durch Erbschaft und geschickte Finanzaktionen mit der Ostindienkompanie ein enormes Vermögen besaß. Gleichwohl galt Louis Henris Kollektion ostasiatischer Porzellane als eine der besten Europas. Sie wurde während der Französischen Revolution zerstreut; für die Ausstellung kehrten einige bedeutende chinesische und japanische Werke nach Chantilly zurück.

Wie fast alle französischen Porzellanliebhaber erwarb der Herzog von Bourbon auch Werke aus Meissen. Die ostasiatischen wie die sächsischen Stücke dienten der Manufaktur, die er 1730 in Chantilly gründete, als Vorbilder. Rasch erwarb sich die Produktionsstätte Reputation und erhielt 1735 ein königliches Privileg. Die große Einschränkung war, dass in Frankreich nur Weichporzellan hergestellt werden konnte, bis man 1769 die ersten Kaolinvorkommen im Limousin entdeckte. Die Stücke sind nicht so kratzfest wie Meissener oder asiatisches Hartporzellan, vor allem nicht so strahlend weiß und schimmernd transparent, sondern haben oft einen leichten Graustich. Meissen blieb also in Europa vorerst das Maß aller Dinge.

Meissen Porzellan Uhr Chantilly
Pariser Händler kombinierten Meissen-Figuren mit französischen Uhren und Goldbronze-Zutaten. Hier ein Elefant samt Mahut, modelliert von Peter Reinicke, um 1745. Die französische Uhr und die Weichporzellanblumen, wohl aus Vincennes, um 1750. © Christian Mitko

Der Dialog der beiden Manufakturen ist aufschlussreich, weil er zeigt, wie das neue Porzellan die Geschmacksgeschichte beeinflusste, wie es der Ostasienmode eine unerschöpfliche Spielwiese bereitete und den Unternehmergeist anspornte. Luxushändler in Paris, die marchands merciers, stachelten die Nachfrage nach Porzellan zusätzlich an, indem sie Meissener Figuren mit teuren Pariser Uhren und Goldbronze-Montierungen, oft auch noch mit Weichporzellanblumen aus Chantilly oder Vincennes kombinierten. Ein Sultan, geräkelt auf einem Nashorn, umkränzt von Rosenblüten; zwei Möpse, die einträchtig mit einem Fasan eine Uhr tragen; ein ganzes Orchester musizierender Affen auf einem Podest emporwachsender Rocailles, darüber eine kleine Orgel und noch eine Uhr samt Blumenranken: Diese irren Schöpfungen, von denen die Ausstellung eine ganze Parade auffährt, waren der Gipfel des Luxus und der Extravaganz.

Nicht weniger spektakulär ist die versammelte Menagerie. An die Meissener Vögel und anderen Tiere, die Kändler als Krönung der Dresdner Porzellanverherrlichung im Japanischen Palais schuf, kamen die Modelleure von Chantilly nicht heran. Darum geht es aber nur am Rand, wichtiger sind der Zeitgeschmack und der Drang, die Natur und die reale Welt im Kleinformat des neuen Materials widerzuspiegeln.

Und schöner kann man Porzellanaffen nicht präsentieren, als Peter Marino es auf einem Wald goldener Astsockel in der „Grande Singerie“ tut. Auf den Wandmalereien dieses Kabinetts, 1737 für den Herzog von Bourbon von Christophe Huet ausgeführt, tragen die Affen Kleider und verrichten menschliche Tätigkeiten. Davor nun die keramischen Primaten – unwillkürlich muss man an die „Planet der Affen“-Filme denken.

Porzellanaffe Chantilly
Pariser Händler kombinierten Meissen-Figuren mit französischen Uhren und Goldbronze-Zutaten. Hier ein Elefant samt Mahut, modelliert von Peter Reinicke, um 1745. Die französische Uhr und die Weichporzellanblumen, wohl aus Vincennes, um 1750. © Christian Mitko

Die Idee für diese schöne, kluge Schau hatten vor einigen Jahren zwei Porzellanliebhaber: Prinz Amyn Aga Khan, Bruder des Nizariten-Oberhaupts, der sich für den Erhalt von Chantilly sehr engagiert, und Alfredo Reyes von der Münchner Kunsthandlung Röbbig. Sie trieben mit dem jungen Kurator Mathieu Deldicque das Projekt voran, begeisterten Mäzene, Reyes vermittelte zahlreiche Werke aus Privatbesitz. Die Dresdner Porzellansammlung und andere Museen schlossen sich mit wichtigen Leihgaben an.

Doch geht es beim Besuch in Chantilly nicht nur um Porzellan. Die Schau ist Teil des Rundgangs durch das Schloss, das als Musée Condé die bedeutendste Kunstsammlung Frankreichs nach dem Louvre besitzt. Das Ensemble, zu dem auch weitläufige Gärten und eine Pferderennbahn gehören, trägt überall die Spuren der Familie Bourbon-Condé, die als Nebenzweig des Königshauses immer wieder die Geschichte des Landes mitbestimmte. Der „Grand Condé“, legendärer Heerführer im 17. Jahrhundert, ließ das Renaissanceschloss erweitern und holte 1662 André Le Nôtre, der hier wie in Versailles die Natur mit großzügigen Gewässern und Ornamentflächen zum rationalen Kunstwerk zähmte. Louis Henri, der Enkel des „Grand Condé“ richtete die kunstvoll mit goldenem Rocaillewerk dekorierten Paraderäume ein, erwarb zahlreiche Ausstattungsstücke und erbaute die prachtvollen Stallungen, die man keinesfalls versäumen sollte.

Galerie des Batailles
Ein Schauplatz der Ausstellung: In der „Galerie des Batailles“ von Schloss Chantilly sind die Schlachten vom „Grand Condé“, Frankreichs erfolgreichstem Feldherrn im 17. Jahrhundert, verewigt. © ctanierephotographie

Das heute zu bewundernde Gesamtkunstwerk ist aber vor allem das Werk von Henri d’Orléans, Herzog von Aumale und Sohn des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe. Auch er stammte von den Bourbonen ab, ein wichtiger Antrieb für ihn, Chantilly nach den Zerstörungen der Revolution in einem historistischen Eklektizismus zu rekonstruieren und zu einem Ort der Kunst zu machen. Seit 1848 baute er eine Kunstsammlung auf, und wenn man durch das Schloss wandert, kann man kaum fassen, was dieser Mann im 19. Jahrhundert alles noch erwerben konnte: französische Porträts und Glasmalereien der Renaissance; eine gewaltige Kollektion italienischer Malerei, darunter Hauptwerke von Piero di Cosimo, Botticelli, Perugino und gleich drei Mal Raffael; der „Bethlemitische Kindermord“ und andere Bilder Poussins, von Watteau bis Ingres fast alle wichtigen französischen Maler des 17. bis 19. Jahrhunderts. Zudem liebte der Duc ­d’Aumale mittelalterliche Handschriften, die er im großen Stil erwarb. So auch die „Très Riches Heures“ der Brüder von Limburg, eines der bedeutendsten Werke der Buchmalerei überhaupt.

In seinem Testament vermachte der Herzog von Aumale die gesamte Domäne samt allen Kunstschätzen dem Staat. In Erinnerung an seine Vorfahren sollte die öffentliche Galerie den Namen Musée Condé tragen; es eröffnete im April 1898, ein Jahr nach dem Tod des Herzogs. Er hatte verfügt, dass nichts an der Anordnung der Werke geändert und nie etwas ausgeliehen werden darf. So ist hier die Zeit stehen geblieben. Das ist nicht der geringste Reiz dieses Ortes.

Service

AUSSTELLUNG

„La Fabrique de l’Extravagance. Porzellan aus Meissen und Chantilly“,

Domaine de Chantilly, nördlich von Paris bei Senlis, bis 29. August 2021

Der Katalog ist auf Französisch und Englisch erschienen.

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