Vor 150 Jahren wurde Lyonel Feininger in New York geboren. Er zog jung nach Deutschland und wurde in seiner Wahlheimat Berlin zu einem der bedeutendsten Maler der Moderne
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11.06.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 184
„Berlin war überhaupt – und ist heute noch in der Erinnerung – für mich die einzigwahre Heimatstadt“, schrieb Lyonel Feininger als über Achtzigjähriger an seinen Künstlerfreund Gerhard Marcks, „mit Gassenhauern und den alten Fliegenden Blättern an den Verkaufsstellen von Tageszeitungen Ecke der Dorotheenstraße und Friedrichstraße, und Passage-Panoptikum, mit dem Laden der Ost-Preußischen Bernstein-Industrie, wo man noch in den Vorkriegsjahren für billiges Geld – von Mark 3.00 aufwärts – ECHTE Meerschaum Cigarettenspitzen erstehen konnte.“ Damit sprach Feininger einige Leidenschaften an, die sein ganzes Leben geprägt hatten: Musik, Karikaturen, das Kino, Nikotin. Und für all das stand ihm Berlin. Mit einem Wort: für Lebenslust. Ohne dass er die Stadt allerdings zu einem wichtigen Gegenstand seiner Kunst gemacht hätte. Anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins 1987 bekam das dortige Stadtmuseum das Feininger-Gemälde „Gasanstalt in Schöneberg“ von 1912 geschenkt. Es ist das einzige gemalte Berlin-Motiv des Künstlers, der offenbar kaum ästhetische Reize in jener Stadt entdecken konnte, in der er dreißig Jahre seines Lebens verbrachte.
Den anfangs zitierten Brief vom 8. Januar 1952 schrieb Feininger aus New York. Dort war er 1871 geboren worden; am kommenden 17. Juli feiern wir also seinen 150. Geburtstag. Und aus dem nationalsozialistischen Deutschland war er 1937 nach New York zurückgekehrt. Fast zwanzig Lebensjahre lagen da noch vor ihm. Doch das halbe Jahrhundert zuvor hatte er in Europa verbracht, den größten Teil davon in Berlin. Dorther stammten seine beiden Frauen, dort wurden vier seiner fünf Kinder geboren, dort wurde er berühmt. Aber zum Maler wurde er dort nicht. Dafür musste er 1906, als Mittdreißiger, für zwei Jahre nach Paris, wo er sich an seinen ersten Bildern versuchte, nachdem er bereits eine erfolgreiche Karriere als Karikaturist hinter sich hatte. Als solcher hatte Feininger etliche Male Berlin porträtiert: Alltagsszenen aus dem Leben des deutschen Kaiserreichs in der Hauptstadt finden sich ebenso regelmäßig in seinem Schaffen als Pressezeichner wie Karikaturen der Berliner politischen Klasse. Doch als würdig, von ihm später auch gemalt und damit der profanen Vergänglichkeit tagesaktueller Phänomenologie entrissen zu werden, erschien ihm das Erscheinungsbild der Stadt nicht –Berlin erscheint in Feiningers Erinnerungen als pittoresk, aber dennoch nicht der Bebilderung wert. Womöglich ist das jedoch die größte Liebeserklärung gewesen, die er der Stadt machen konnte. Das Malen fiel Feininger generell schwer, weil er es so ernst nahm. Gerade als ein dazu Spätberufener wollte er kein einziges Bild verschwenden, und so erfasst das drei Jahre nach seinem Tod erstellte erste Werkverzeichnis trotz einer fünfzigjährigen Schaffenszeit keine sechshundert Gemälde.
Feiningers Jahresablauf gehorchte seit 1906, seinem Aufbruchsjahr zur Kunst, einem strengen Regiment: Im Sommer wurde auf langen Spaziergängen und Radfahrten rund um den jeweiligen Aufenthaltsort gezeichnet, im Winter entstanden aus den Motiven Gemälde im Atelier. Aquarelliert hat Feininger dagegen zwanglos zu allen Jahreszeiten, ganz wie er auch als Karikaturist pausenlos tätig gewesen war. Die Leichtigkeit dieses spontanen Schaffens hat der Maler Feininger später immer vermisst.
Diese Atmosphäre künstlerischer Unbeschwertheit dürfte denn auch die Ursache seiner nach erstem Fremdeln immer größeren Begeisterung für Berlin gewesen sein. Er besuchte die Stadt zum ersten Mal als Sechzehnjähriger im Herbst des Jahres 1887, nur wenige Tage nachdem er mit dem Schiff aus New York in Hamburg angekommen war. Von dort sollte es eigentlich weiter nach Leipzig gehen, wo Feininger sich auf Wunsch seiner Eltern – der Vater war Geiger, die Mutter Sängerin – an der berühmten Musikakademie bewerben wollte. In Berlin machte er einen zweitägigen Zwischenstopp, weil die Eltern sich dort während einer Europatournee aufhielten, doch dann erfuhr er, dass der auserkorene Leipziger Lehrer derzeit nicht an der Akademie unterrichtete. Da die Eltern durch ihre Konzertverpflichtungen keine Zeit zur Betreuung ihres Sohnes hatten, schickten sie ihn nach Hamburg zurück, wo er bei einer deutschen Bekannten der Familie unterkam. Um die Wartezeit zu überbrücken, schrieb Lyonel Feininger sich für einen Zeichenkurs an der Allgemeinen Gewerbeschule ein. Vom Musikstudium war fortan keine Rede mehr. Der Rest ist Kunstgeschichte.
Hamburg war als Hafen- und Handelsstadt New York viel zu ähnlich (und zu klein), als dass es ihn hätte beeindrucken können. Vom zweitägigen Kurzbesuch in Berlin dagegen war Feininger der Eindruck einer prachtvollen und wohlorganisierten Metropole geblieben, die seine amerikanische Heimatstadt weit übertraf: „Es ist eine wunderschöne Stadt, selbst die ärmsten Straßen sind wohltuend sauber, und die Pferdebahn hält nur an bestimmten Stationen“, hatte er Anfang November 1887 im ersten Brief aus Deutschland an einen amerikanischen Freund geschrieben. Deshalb bewarb Feininger sich im Sommer 1888 um einen Platz an der Königlichen Akademie, dem renommiertesten Künstlerausbildungsinstitut von Berlin. Die Eltern waren mittlerweile in Brasilien unterwegs, also bezog er bis zu deren Rückkehr ein erstes eigenes Zimmer, um sich auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten, die er am 1. Oktober bestand.
Berlin wurde Feininger damit zum ersten persönlichen Triumph aus eigener Kraft: Hier arbeitete er nicht nur, hier lebte er auf – in einem ganz profanen Verständnis, wie es die eingangs von ihm aufgezählten Vergnügungen erkennen lassen, und auf metaphysische Weise. Mehr als sechzig Jahre später, als der Zweite Weltkrieg vieles von dem zerstört hatte, was er kannte, schrieb Lyonel Feininger an seinen jüngsten Sohn Theodor Lux: „Heute dürfte es kaum eine Ecke in Berlin und der Umgebung geben, für die ich keine starken Gefühle hegte. Es ist seltsam. Da drüben liegt ein ganzer Friedhof an Erinnerungen, und hier sitze ich ganz allein in der Stadt, in der ich geboren wurde, die aber kaum jemanden, den ich getroffen habe, gekannt zu haben scheint.“
Vertrautheit und Freundschaften machten also den Unterschied zwischen diesen beiden Städten aus, obwohl Feininger am Ende seines fünfundachtzigjährigen Lebens doch noch ein wenig mehr Zeit in New York als in Berlin gelebt haben sollte: die ersten sechzehn und die letzten neunzehn Jahre. Aber dazwischen hatte er sich fast ganz von seiner amerikanischen Heimat verabschiedet: Obwohl er zeitlebens Bürger der Vereinigten Staaten blieb, war er im Herzen Deutscher geworden. Woran er noch festhielt, war ein nostalgisches Amerikabild, das seiner Jugendzeit in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts entsprach, während er für die dynamische und deshalb weltweit bewunderte Nation des frühen 20. Jahrhunderts nichts übrighatte. Im Gegenteil, er fürchtete diesen amerikanischen Einfluss und einen daraus resultierenden kulturellen Niedergang in Europa: „Danke! meinen Bedarf an Amerikanern decke ich im Kino, wo ich allerdings mit Entzücken Land und Leute im besten ›Lichte‹ wiedergespiegelt bekomme. Aber sonst bin ich kühl bis ans Herz unserer amerikanischen Oberflächen Kultur gegenüber. Lieber die Tiefen des Leidens kennen und fühlen, aber eine Seele im Leibe haben – Gefühl und nicht ›Emotion‹“, schrieb er 1924 an eine gerade in die USA ausgewanderte deutsche Bekannte. Auch in seiner Überheblichkeit gegenüber angeblicher amerikanischen Unkultur war Feininger typisch deutsch geworden.
In den Jahren 1887 bis 1937, die er in Deutschland verbrachte, erlebte er drei verschiedene politische Systeme: Monarchie, Demokratie, Diktatur. Und es gab darunter zwei Phasen, in denen man einen Amerikaner in Berlin nicht erwartet hätte: die Zeit des Ersten Weltkriegs, besonders nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in die Kampfhandlungen, und die des „Dritten Reichs“. Im ersten Fall galt Feininger offiziell als „feindlicher Ausländer“, durfte aber bleiben und arbeiten, weil er Frau und Kinder in Deutschland hatte. Im zweiten Fall harrte er immerhin vier Jahre lang aus, obwohl seine Kunst von Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft an verfemt und seine Frau als Jüdin klassifiziert wurde. Dass er so lange im Land der Nazis lebte, obwohl er im Gegensatz zu vielen Emigrationswilligen als amerikanischer Staatsbürger jederzeit hätte ausreisen können, das ist aus heutiger Sicht schwer zu begreifen. Doch dieser Künstler ist ein Exempel für die Ambivalenz des 20. Jahrhunderts, für dessen Zwiespalt zwischen absoluter Modernität im Ästhetischen und politischem Totalitarismus. In Feininger spiegelt sich seine Epoche.
Das hatte sich bereits in den Karikaturen gezeigt, die er von 1890 an zeichnete und mit denen er im folgenden Jahrzehnt großen Erfolg hatte. Feiningers Zeichnungen fanden sich in den berühmtesten Berliner Satirezeitschriften des Kaiserreichs, den „Lustigen Blättern“, dem „Ulk“, dem „Wahren Jacob“, dem „Narrenschiff“ oder dem „Lieben Augustin“. Er legte seine im Regelfall ganzseitigen Blätter in einem Stil an, der mit allem brach, was man kannte: Freiflächen, in kräftigen Farben monochrom gedruckt, wurden wichtige Bildelemente, die Physiognomien der Figuren wurden ins Groteske verlängert, und neben die Kontur trat die Kolorierung als gleichberechtigtes künstlerisches Mittel – Lyonel Feininger hatte die japanischen Farbholzschnitte, die damals groß in Mode waren, studiert. Der Jugendstil findet bei ihm einen frühen Ausdruck, aber immer bewahrte er den karikaturesken, also im doppelten Sinne verzeichnenden Blick: Er beobachtete, und er formte um. Sein Originalitäts- und Schönheitsideal entstand aus dem Bedürfnis nach Gewitztheit.
Das entsprach der Aufbruchstimmung in Berlin, besonders in dessen gerade erst errichteten neuen Stadtteilen rund um die 1895 fertiggestellte Kaiser-Wilhelms-Gedächtniskirche. Doch Feininger wurde diese Dynamik bald unheimlich. „Wie habe ich den neuen Westen geliebt, Anfang dieses Jahrhunderts“, schrieb er fünf Jahrzehnte später in seinem Brief an Gerhard Marcks: „Berlin, ohne Taxis und Autos, war ein Traum, und noch schöner war die Große Berliner Pferdebahn, mit Einspänner über den Hafenplatz, Zweispännern sonst, inclusive der Doppeldecker. Das erste Anzeichen von beginnendem Unheil war doch wohl schon die Einführung der ›Elektrischen‹ um 1899, in liebevoller Untermischung mit den Pferdekoben. Später ging’s mit steigernder Rapidität abwärts in das Gewimmel und in die gesteigerten Ansprüche der Weltstadt die dann bald daraus wurde.“ Wobei es doch gerade dieser Weltstadtanspruch und die damit verbundene Presse- und Kunstkonzentration gewesen war, die Feiningers Karriere begünstigt hatten. Als Karikaturist erzielte er ein solides Auskommen, und 1901 war ihm auch als Künstler ein erster Coup gelungen, als er auf der Jahresausstellung der Berliner Secession Zeichnungen ausstellen konnte. Dafür hatte Gustav Fürst gesorgt, ein Maler, der Mitglied dieser avantgardistischen Künstlervereinigung war – und seit kurzer Zeit Feiningers Schwiegervater. Die Musikleidenschaft hatte den Karikaturisten 1900 in ein Konzert geführt, wo er sich in die Pianistin Clara Fürst verliebte. Sie war acht Jahre jünger als er und verkehrte, obwohl sie einen jüdischen Vater hatte, in der besseren Berliner Gesellschaft, weil Gustav Fürst als Dekorationsmaler zahlreiche großbürgerliche Villen ausgestattet hatte. Nach der Heirat zog das Ehepaar Feininger in eine eigene Wilmersdorfer Wohnung, und im Dezember 1901 wurde die erste Tochter Eleonora geboren; im Jahr darauf folgte mit Marianne das zweite Kind.
Aber der Ehe war kein Glück beschieden. Feininger verliebte sich im Frühling 1905 bei seinem jährlichen Ostseeurlaub in Julia Berg, eine mit einem Mediziner verheiratete Berlinerin. Die angehende Malerin, damals 24 Jahre alt, begann bald auf den Karikaturisten einzuwirken, sich auch für eine künstlerische Laufbahn zu entscheiden. Beide verließen ihre Ehepartner, und Feininger machte seine Trennung sofort öffentlich, indem er eine gereimte Bildergeschichte in den „Lustigen Blättern“ publizierte. Sie erzählte vom missglückten Gartenhausbau eines Familienvaters: „Hier dieses Plätzchen mieten wir, / Die Laube mach ich selber hier! / Die Latten her – zur Laubenstütze! / Ich bin der reine Lattenfritze! / Das Werk, es muß den Meister loben, / Herrje, wie steht das da, verschroben! / Das Zeugs in Klumpen werfe ich, / Ex est die Laube! – Na denn nich!“ Dazu zeichnete Feininger als Protagonisten sich selbst in typisch amerikanischer Dandykleidung mit Frau und zwei kleinen Töchtern – und im Frust über das missratene Bauwerk als großen Zerstörer des eigenen Heims. Damit war ganz Berlin über das Ende seiner ersten Ehe informiert.