Aus den barocken Prunkbuffets entstand eine neue Kunst: die Schaugerichte. In Fayence und Porzellan imitieren sie Speisen vom Wildschwein bis zum Kohlkopf – ein Augenschmaus im wahrsten Sinne
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21.06.2021
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WELTKUNST Nr. 169
Vor nicht allzu langer Zeit, da liebten es die Fleischer und Metzger, ihre Schaufenster mit einem Schweinekopf zu dekorieren, dem sie einen Apfel in die Schnauze steckten. Das war der späte Nachklang eines fürstlichen Brauchs, der ein paar Jahrhunderte zurücklag: Nach dem erfolgreichen Abschluss der Jagd servierte man beim anschließenden Festessen den Kopf eines Keilers, dem nach der Zubereitung das zuvor abgezogene Fell wieder übergestülpt wurde. Und als Zier steckte ihm der Koch einen Zweig oder ein Stück Obst ins Maul. So verbrüderte sich der Schrecken vor dem wilden Tier mit der Esslust.
Als sich im 17. Jahrhundert die Tischsitten verfeinerten und man nicht mehr alle Gerichte gleichzeitig auf die Tafel stellte, sondern sie nacheinander servierte, als außerdem Tischdecken, Besteck, Servietten und der Wechsel des Geschirrs üblich wurden, ließ auch der Tafelschmuck nicht lange auf sich warten. Da prunkte man nun, um Macht und Reichtum zu unterstreichen, mit Tellern, Schüsseln, Platten, Pokalen und Leuchtern aus Silber und Gold als Schaubuffet, während sich auf dem Tisch die raffiniert arrangierten Speisen drängten. „Schauessen werden solche Gerichte genennet, welche von Menschen Händen gemachet, lieblich anzuschauen und auch können genossen werden: Sie belustigen erstlich die Augen, nachgehends den Mund und werden meinsten Theil aufgesetzet, wann man sich mit andren Speisen gesättiget hat“, schreibt der Barockdichter Georg Philipp Harsdörffer dazu 1657 in seinem „Neuen Trenchir-Büchlein“.
Auch Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen berichtet 1668 in seinem Schelmenroman „Simplicius Simplicissimus“ von einer solchen Schautafel: „Da sah ich vielerhand Pastete, auf einer stand ein schöner Fasan in seinem natürlichen Gefieder, als wenn er lebte und jetzt fortfliegen wollte; auf der anderen ein Kapaun, auf der dritten ein Auerhahn, auf der vierten ein paar Hasel-, und auf der fünften etliche Feldhühner, und so fortan.“ Und wie diverse Chroniken verwundert berichten, kamen zuweilen Pasteten auf den Tisch, aus denen beim Anschneiden Vögel herausflogen oder ein Zwergenpaar stieg, das anmutige Honneurs machte. Zuweilen empfand man es sogar als Scherz, wenn sich aus derlei „Galanterie-Speis oder Schau-Essen“ Schlangen ringelten, um die Damen zu verschrecken.
Solche Gags markieren den Übergang von den genießbaren Schauessen zu den dekorativen Schaugerichten, die oft nur zwischen den Gängen auf die Tafel gesetzt wurden. Sie waren meist – das erforderte von den Köchen erhebliche bildhauerische Fähigkeiten – aus Tragent (einer Zuckermasse) und Wachs über Stützen aus Stroh, Holz und Leinen modelliert. Das konnten Burgen und Schlösser, Türme und Triumphbögen sein, die dem Ehrengast allegorisch huldigten, aber auch Tiere, Früchte und anderes als Augentrug. Denn abendlich beim Schein von flackernden Kerzen ließen sich Essbares und Zierde nicht leicht unterscheiden.
Anders war es bei einem Brauch, der aus Italien kam: die Fertigkeit, Servietten kunstvoll zu falten. Sie wird erstmals in den Beschreibungen zweier Bankette 1529 in Ferrara erwähnt. Und ein Bericht über das Nürnberger Friedensmahl anno 1649 nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges schildert „kunstfündige Schaugerichte“, von denen die „vornehmsten zehn theils aus gefaltetem Kammertuch, theils aus Butter künstlich geformet“ waren. Für diese Tischdekorationen aus Damast – Origami avant la lettre – wurden faltenreich Tiere oder Architekturen nachgebildet. August Hermann Francke hat diese eigenwillige Kunst des „Serviettenbrechens“ 1705 in den Francke’schen Stiftungen zu Halle sogar als Unterrichtsfach eingeführt.
Das war die Zeit, in der man sich bei Hofe oft vom silbernen und goldenen Tafelgeschirr verabschieden und zur Keramik wechseln musste. Nicht etwa aus hygienischen oder ästhetischen Gründen, sondern weil die zahlreichen Kriege selbst prunkliebende Herrscher wie Ludwig XIV. zwangen, das Edelmetall einzuschmelzen, um die Soldaten bezahlen zu können. Kaiserin Maria Theresia, deshalb auf Sparsamkeit ihrer Hofhaltung bedacht, verbot 1761 höchst offiziell die teure Vergänglichkeit der Tischdekorationen aus Zuckerzeug und Ähnlichem zugunsten der Fayence- und Porzellanaufsätze.
Davon profitierte nicht zuletzt das niederländische Delft, wo sich, inspiriert von der italienischen Majolika, seit dem 17. Jahrhundert zahlreiche plateelbakker (Töpfer) niedergelassen hatten, die mit ihrer porceleyn genannten Fayence dem teuren, aus China und Japan importierten Porzellan Paroli zu bieten versuchten. Sie verbürgerlichten den fürstlichen Brauch der Schaugerichte und nahmen sie in ihre Produktion auf. Damit stand die zinnglasierte Keramik aus Delft, die vom Marktführer Aronson Antiquairs in Amsterdam schon seit 1881 reichhaltig und in bester Qualität vertreten wird, keineswegs allein. Auch andernorts ließen sich Fayence-Manufakturen auf diese Objekte ein, die ironisch-irritierend auf das Spiel des Verschwisterns von Natur und Kunst setzte.
Adam Friedrich von Löwenfinck, der als Blumenmalerlehrling in Meissen begonnen hatte, 1736 aus sächsischen Diensten nach Bayreuth flüchtete, danach in Chantilly, wahrscheinlich in Ansbach, dann in Fulda, Weisenau bei Mainz, in Höchst und schließlich – wie zwei seiner Brüder und seine Frau – bis zu seinem Tode 1754 in Hagenau bei Straßburg aktiv war, verband gewissermaßen in seiner Person die wichtigsten Manufakturen. Darüber hinaus wären aber auch Chelsea, Sceaux, Holitsch, Proskau, Schrezheim, Longton Hall und andere, die oft nur wenige Jahre bestanden, auf eine Karte jener Fayence-Produzenten einzutragen, die neben der Alltagsware Schaugerichte fertigten – die Themen und Formen ihrer Konkurrenten nachahmend und kopierend.
Die prominentesten Stücke waren, dem Ursprung im fürstlichen Jagdrecht entsprechend, oft die Eberköpfe als Terrine. Das belegen nicht nur die besonders geschätzten Exemplare aus Höchst oder Straßburg in fast allen Museen, die einen größeren Bestand besitzen. Schloss Favorite bei Rastatt, das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe und das Bayerische Nationalmuseum gehören dazu. Auch die Sammlung Ludwig in Bamberg, Schloss Clemenswerth im Emsland, das Musée Ariana in Genf oder das Musée des Arts Décoratifs in Straßburg. Und als Besonderheit das Winterthur Museum im amerikanischen Delaware mit der „Campbell Collection of Soup Tureens“.
Gleichfalls sehr beliebt waren Vögel wie Schwäne, Pfauen, Fasane, Truthähne, Enten oder Schnepfen, die einst als Jagdwild in natura die Tafel geschmückt hatten. Es konnte aber auch ein liegendes Ferkel sein, wie es Heinz Josef Esch, der mittlerweile leider verstorbene Fayence-Spezialist aus Düsseldorf, 2012 auf der Highlights in München für 16.500 Euro anbot. Hinzu kamen heimische wie exotische Gemüse und Früchte: Kohlköpfe jeglicher Façon als Terrinen, Kürbis und Melonen, Trauben und Ananas als Deckeldosen, in denen die süßen Speisen zum Abschluss gereicht wurden. Und nicht zuletzt präsentierte man Äpfel und Birnen, Oliven, Nüsse, Bohnen, aufgeschnittene Eier und sogar Steine auf einem Teller als reine Schaustücke. Rettiche, sternförmig angeordnet, verraten außerdem, dass auch gewöhnliche Speisen nicht vernachlässigt wurden.
Heute noch faszinieren die Schaugerichte – die meisten von ihnen aus dem 18. Jahrhundert – in ihrer Kuriosität die Sammler und trotzen der schwachen Marktlage der Fayence. So sprang 2016 ein Teller mit Radieschen, wohl um 1755 im lothringischen Niderviller entstanden, bei Van Ham von den taxierten 1000 auf 9700 Euro samt Aufgeld. Zuvor hatten vergleichbare Stücke aus Straßburg 9400 und 10.600 Dollar bei Sotheby’s New York gebracht. Besonders begehrt waren Spargel, die in kleinen und großen Bündeln immer wieder modelliert wurden. Bei der Versteigerung des Nachlasses von Rachel „Bunny“ Mellon 2014 bei Sotheby’s in New York konnte man zwischen zehn Beispielen, mal als Dose, mal als Terrine, wählen. Die Ergebnisse zwischen 2300 und 119.000 Dollar deuten an, welche Qualitätsunterschiede es in diesem Genre gibt. Den bislang wohl höchsten Auktionspreis für das Schaugericht einer europäischen Manufaktur erreichte im selben Jahr bei Sotheby’s London eine Straßburger Schnepfenterrine aus der Sammlung Ortiz-Patiño mit 110.500 Pfund.
Übertroffen werden die europäischen Stücke allerdings von der fernöstlichen Konkurrenz. Im Jahr 1663 orderte die Niederländische Ostindien-Kompanie in China 25 Eberkopfterrinen, von denen dann allerdings nur 19 auf die Reise nach Amsterdam gingen. Eine davon brachte in New York unlängst 37.500 Dollar. Im Jahr 2013 kostete ein anderes Exemplar mit Unterteller 59.400 Dollar – nachdem es ein Jahr zuvor mit einer Schätzung von 70.000 bis 100.000 Dollar gescheitert war. Da erwiesen sich zwei Gänse, ebenfalls aus dem China des Kaisers Qianlong, als deutlich erfolgreicher: 115 300 Pfund erzielte eine 2012 in London, 245.000 Dollar eine andere 2016 in New York, jeweils bei Christie’s. Und so wie die Chinesen munter den Ideen der Europäer nacheiferten, blieben auch ihre Kreationen nicht ohne Nachahmer. Womöglich war das damals so wenig lukrativ wie heute: 2018 kam eine europäische Terrinengans im chinesischen Exportstil bei Doyle lediglich auf 250 Dollar.
Trotz der anhaltenden Beliebtheit bleiben die Preise der Schau-Fayencen moderat. Nur selten erreichen sie den niedrigen fünfstelligen Bereich, meist kosten sie vierstellige, zuweilen sogar nur dreistellige Summen. Als Koller 2016 in Zürich rund 70 Schaugerichte aus dem Nachlass der Kölner Sammlerin Marie-Theres Schmitz-Eichhoff aufrief, erzielten ein französischer Teller mit Eiern und eine Blumenkohlterrine aus Brüssel mit jeweils 9400 Franken die höchsten Zuschläge. Eine süddeutsche Melone als Deckelterrine ließ sich bereits für 1000 Franken brutto erwerben. Andererseits waren (durchaus berechtigte) 70.000 Euro nötig, als das Emslandmuseum in Schloss Clemenswerth – für das Erzbischof Clemens August 1750 zwei Jagdservice mit 600 Teilen (darunter 98 Trompe-l’Œil-Terrinen) in der Straßburger Fayence-Manufaktur bestellt hatte – vor vier Jahren eine der ehemals vier Schildkröten-Soupièren von einem britischen Anbieter erwarb.
Die Schaugerichte aus Straßburg mit ihren fantasiereichen Formen und der sehr feinen Bemalung sind bis heute besonders begehrt. Das verbindet sich mit zwei Namen. Löwenfinck ist der eine, obwohl ihm nur wenig zuzuweisen ist. Das hängt mit der Arbeitsteilung und der Spezialisierung in den Manufakturen zusammen. Deshalb sind Signaturen der Modelleure oder Maler höchst selten. Und selbst Manufakturmarken fehlen häufig. Paul Anton Hannong, der Besitzer des Straßburger Unternehmens, ist deshalb eine Ausnahme. Das gilt beispielsweise für die mit „PH“ signierte Terrine in Form eines Kohlkopfes aus der Rockefeller-Sammlung, die im Mai 2018 bei Christie’s New York ihre Taxe mehr als vervierfachte und am Ende 85.000 Dollar erzielte.
Hannong übernahm 1732 die von seinem Vater gegründete Fayence-Werkstatt mit ihrer Dependance in Hagenau. 1755 wechselte er, von der französischen Konkurrenz verdrängt, ins kurpfälzische Frankenthal – und zum Porzellan. In Höchst wich man der Frage, ob Fayence oder Porzellan einträglicher sei, auf einfache Weise aus: Man entschied sich, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Ein sitzendes Rebhuhn als Dose oder eine Schnepfe als Terrine, die auf beiderlei Art ausgeformt wurden, demonstrieren das.
Mit der Französischen Revolution war die Zeit der feudalen Rituale und damit auch der Schaugerichte vorbei. Und der Klassizismus, dem Schlichten bis Kargen zuneigend, hatte ebenfalls keinen Sinn für solche amüsanten Spielereien. Dabei blieb es im 19. und 20. Jahrhundert. Doch inzwischen hat sich das geändert. Zunehmend lassen sich wieder Töpfer und Werkstätten entdecken, die diese alte Kunst fortführen, wenngleich mehr als hübsche Seltsamkeit, weil sich trotz raffinierter handwerklicher Geschicklichkeit das Auge mit Fayence oder Porzellan nicht mehr überlisten lässt.
Aber als heiteres, aufheiterndes Dekor eignet es sich noch immer. So haben sich Tiffany wie Dior in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit der italienischen Manufaktur Este Ceramiche zusammengetan und neben Vasen und Tellern auch Trompe-l’Œil-Porzellane auf den Markt gebracht – bei Ebay findet man viele davon. Und Bonhams bot im letzten Jahr in Los Angeles zwei Arbeiten von Manfred Wild aus Idar-Oberstein an. Eine Tazza mit Schokoladenstücken, aus Achat geschnitten, brachte 2300 Dollar, und zwei kleine Teller aus Jadeit mit zuckerbestäubten Keksen kamen auf 1800 Dollar. Beides Kunststücke mit frappierend echt wirkenden Süßigkeiten.
Glück und Tücke aller dieser Schaugerichte sind: Als Bild, ob Gemälde oder Fotografie, täuschen sie das Auge weiterhin. Dem Pfau, den eine Dame auf einer Buchmalerei serviert, dem Truthahn auf einem Gemälde von Pieter Claesz, dem Schwan auf einem Küchenstillleben vom jüngeren Teniers oder vom älteren Jan Brueghel sieht man nicht an, ob sie Luxusspeise oder nur Dekoration waren. Aber muss uns das abhalten, uns auf das Lob des schönen Scheins und das Vergnügen des Augentrugs einzulassen?