Rund Tausend Zeichnungen Ernst Ludwig Kirchners kamen in den letzten zehn Jahren zur Auktion – nicht alle waren von gleich hohem künstlerischen Niveau. Wie bewertet der Markt dieses Qualitätsgefälle? Scheidet sich die Spreu vom Weizen an den Preisen?
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20.08.2021
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 13
Wer Erhellendes zum zeichnerischen Werk Ernst Ludwig Kirchners (Aschaffenburg 1880 – 1938 Frauenkirch bei Davos) lesen möchte, wird um die Lektüre der Publikationen von Louis de Marsalle schwerlich herumkommen, die zum Thema absolute Deutungshoheit versprechen. Das ist eigentlich auch selbsterklärend, denn unter dem klingenden Pseudonym feierte sich kein Geringerer als Kirchner selbst, der sich vor jedem anderen berufen wusste, die Relevanz seines Schaffens für die moderne Kunst richtig zu bewerten. Dass er sich bei dem bescheidenen Dienst in eigener Sache überhaupt veranlasst sah, seine Identität hinter einem Alias zu verbergen, ist vermutlich mit einem unschönen Zwist zwischen ihm und seinen ehemaligen „Brücke“-Mitstreitern zu erklären, der bereits Jahre zurücklag: 1913 hatte er in zweifellos lauterster Absicht – damals übrigens noch unter seinem richtigen Namen – eine Chronik der Künstler-Vereinigung verfasst, die von den anderen Mitgliedern gründlich missverstanden worden war. Die nämlich hatten den verletzenden Verdacht geäußert, dass er darin seine eigene Rolle auf ihre Kosten ungebührlich in den Vordergrund gerückt hatte. Da großzügiges Eigenlob nach seinem Empfinden offenbar nichts Anstößiges darstellte, reagierte er umso empörter auf die kleinliche Kollegen-Schelte, was schließlich zum endgültigen Zerwürfnis führte: Kirchner kehrte ihnen schmollend den Rücken, und „Brücke“ war damit Geschichte. Das war es also, was das Ende einer der bedeutendsten Künstler-Gruppen der Moderne herbeiführte – die Hybris eines verkannten Genies, das Anerkennung mit forscher Selbstdarstellung zu erzwingen suchte?
Immer gut für eine farbige Anekdote, war Kirchners himmelschreiender Narzissmus indessen wohl eher Ausdruck einer psychischen Störung und mit seiner labilen Gesundheit in Verbindung zu sehen, die ihn zwang, sich nach 1918 dauerhaft in der Umgebung von Davos niederzulassen. Als schwieriger Zeitgenosse jedenfalls wurde er von Menschen aus seinem Umkreis beschrieben. Dass er den Groll über den Undank seiner einstigen Gefährten nur schwer vergessen konnte, passt in dieses Psychogramm; wer ungeschickt genug war, ihn versehentlich an seine frühere Verbindung zur „Brücke“ zu erinnern, tat dies wohlweislich kein zweites Mal. So unangenehm war dem Maler offenbar die Erinnerung an die gemeinsamen Jahre, dass er sich später sogar eigensinnig verbat, als Expressionist bezeichnet zu werden – was ignorante Kunsthistoriker freilich nicht davon abhält, ihn fröhlich weiterhin unter diesem Etikett zu führen. Dagegen offenbart gerade die Diversität seiner zeichnerischen Arbeiten, dass diese Einordnung tatsächlich nicht durchgängig greift. Vor allem seine farbig gefassten, bildmäßig ausgeführten Pastelle, Gouachen und Aquarelle folgen der Logik der Stilabfolge seines malerischen Œuvres am konsequentesten, bis hin zur größeren Nähe am Gegenstand, die viele Arbeiten seiner Davoser Jahre kennzeichnet. Ein ungleich breiteres Formenspektrum zeigen hingegen die rasch improvisierten Bleistift-, Tusche- oder Kohlezeichnungen, in denen er seine Bildideen häufig ohne ausdrücklichen Stilwillen mit eiligen Konturen und Schraffuren festhielt. Hier finden sich – abhängig von den Gestaltungsmöglichkeiten des gewählten Mediums – filigrane Lineamente und weiche, fließende Formen ebenso wie die vertrautere, von nervöser Strichführung und brachialen Konturen bestimmte Gegenstandsbehandlung.
Das heutige Angebot an Zeichnungen ist aufgrund seines ungeheuren Umfangs schwer zu überblicken, zumal manche Kunsthändler gewohnheitsmäßig lange Zeit einen Teil ihres Jahresumsatzes damit bestritten, nicht nur Kirchners Skizzenbücher auseinander zu pflücken. Rund 1000 Blätter wurden seit 2011 auf dem Sekundärmarkt angeboten, und angesichts des augenfälligen Qualitätsgefälles erscheint es wie ein Wunder, dass nur ein Viertel der Lose zurückgenommen werden musste. So scheidet sich die Spreu vom Weizen überwiegend an den Preisen. Über 40 Prozent der vermittelten Lose blieben im vierstelligen Bereich; betroffen waren in der Mehrzahl sparsam instrumentierte Schwarz-Weiß-Zeichnungen, sofern sie keine Vorzugsmotive wie etwa Aktdarstellungen zeigten. In diesem Segment sind die Präferenzen der Käufer mitunter schwer zu deuten; im Einzelfall genügen bereits wenige flüchtige Farbstift-Schraffuren, um ihnen deutlich höhere Beträge aus der Tasche zu locken. Darum schadet Wachsamkeit grundsätzlich nicht, um den Erwerb einer nachträglich veredelten Arbeit auszuschließen.
Wer aber mehr als nur eine teure Autogrammkarte sucht, wird ohnehin mehr investieren. Bereits in den frühen Neunzigerjahren kam es zu ersten sechsstelligen Zuschlägen für Kirchners besonders geschätzte Pastelle; seither gelangten auch Arbeiten in anderen Techniken in diese Preisregion. Sogar einfache Bleistiftzeichnungen können mitunter teuer werden, solange sie in Motiv, Ausführung, Datierung und idealerweise auch der Provenienz die Kriterien der Anleger erfüllen. Rund zwei Dutzend Premium-Lose schafften den Sprung in diese Spitzenkategorie, einmal wurde sogar ein Millionen-Wert (in Euro) erzielt. Gerade in diesem Bereich mischen Christie’s und Sotheby’s kräftig mit, doch bislang können nationale Anbieter, die immerhin 60 Prozent der Offerte stellen, bei Akquise und Vermarktung bestens mithalten, und nicht selten gelingen vor deutschem Publikum sogar bessere Ergebnisse.
So konnte Neumeister, München, im Mai 2011 die Taxe von 130.000 Euro für das Landschafts-Motiv „Wildboden mit Kirchners Haus“ nochmals um 40.000 verbessern, obwohl das Aquarell nur drei Monate zuvor bei Sotheby’s, London, bei 50.000 Pfund stehengeblieben war. Oft werden Kirchners Zeichnungen gleich im Dutzend angeboten; Kornfeld, Bern, offerierte nur wenige Wochen später eine Auswahl von 17 Blättern. Ein Aquarell von 1909 verbesserte sich von 150.000 auf 350.000 Franken. Ein „Ruhendes Mädchen“ blieb im März 2015 bei Hampel, München, mit dem Zuschlag bei 40.000 Euro am unteren Taxrand stehen, realisierte damit für eine schlichte Bleistiftzeichnung jedoch einen respektablen Wert. 15 Monate später konnte Christie’s, London, ein Spitzen-Pastell akquirieren; erwartungsgemäß wurde die elegante Figurenkomposition „Blaue Artisten“, von bereits selbstbewusst geschätzten 700.000 Pfund um weitere 200.000 hochgezogen und damit der Rekord-Wert des vergangenen Jahrzehnts notiert. Auf ein ähnlich gutes Ergebnis mag man Ende 2018 bei Ketterer, München, für die mit Pastellkreide kolorierte Kohlezeichnung „Selbstporträt mit Gerda (Mann und Sitzende im Atelier)“ gehofft haben, doch fand sich kein Bieter, der über die vorgeschlagenen 400.000 Euro hinausgehen mochte – immerhin gelang damit das beste deutsche Ergebnis.
Das 1908 datierte und mit 200.000 Dollar maßvoll veranschlagte Pastell „Sitzender und liegender Akt auf Bett“ verbesserte sich im November 2019 bei Christie’s, New York, lediglich um 20.000 Euro. Ein frühes, vielleicht zu frühes „Selbstbildnis“ (um 1901) brachte im vergangenen September bei Kornfeld, Bern, immerhin noch 110.000 Franken, ein schönes Aquarell mit Blick auf eine „Davoser Berglandschaft“ kletterte dann im Dezember bei Koller, Zürich, rasch von 15.000 auf 43.000 Franken. Für das doppelseitig bearbeitete Blatt „Sitzende mit großem Hut, Emy Frisch / Szene im Atelier (Fränzi (Marzella) und Artistin)“ blieb Ketterer, München, sieben Tage später nur knapp hinter dem Hausrekord von 2018 zurück, während gerade im Juli bei Karl & Faber, München, das ebenfalls rückseitig bemalte Blatt „Kokotte auf der Straße / Artillerist“ mit 100.000 Euro wenigstens die untere Taxe erfüllte.