Umgang mit kolonialen Objekten

„Transfers muss man für jeden Einzelfall prüfen“

Kolonialgeschichte ist nie nur eine Täter-Opfer-Hierarchie, sondern stets auch eine Verflechtungsgeschichte. Ein Gespräch über den Umgang mit kolonialen Artefakten und ihre Erwerbskontexte

Von Ingo Barlovic
25.08.2021

Götz Alys jüngst bei S. Fischer erschienene Publikation „Das Prachtboot – Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten“ hat große Wellen geschlagen und die Diskussion über den Umgang mit kolonialen Objekten weiter angeheizt. Ingo Barlovic sprach über das Buch mit Dr. Hilke Thode-Arora, der Leiterin der Abteilung Ozeanien und Referentin für Provenienzforschung am Münchner Museum Fünf Kontinente. Und auch darüber, wie Licht in den komplexen Erwerbskontext solcher Artefakte gebracht werden kann.

Frau Thode-Arora, in „Das Prachtboot“ schreibt Götz Aly, der deutsche Kaufmann Eduard Hernsheim hätte ein großes Boot von der Insel Luf, das bald im Humboldt Forum zu sehen sein wird, unredlich erworben. Ein Beleg für Aly ist die Aussage Hernsheims, das Boot wäre „in seine Hände übergegangen“. Kann man damit ausschließen, dass das Boot verkauft wurde?

Das kann man meines Erachtens gar nicht ausschließen. Zum einen ist die Formulierung „in seine Hände übergegangen“ sehr vage. Wie meine Kollegin Prof. Dr. Brigitta Hauser-Schäublin in einem Beitrag für DIE ZEIT vom 15. Juli 2021 rekonstruierte, ist auch eine ganz andere Kontextualisierung denkbar: Der Bau des Boots, das sich heute in Berlin befindet, geschah demnach im Namen eines männlichen Oberhaupts. Dieser Mann starb, als dem Boot gerade die Verzierungen angefügt wurden – und bevor alle nötigen Rituale zu dessen Verwendung erfolgt waren. Folgerichtig sollte das verstorbene Oberhaupt in dem Boot aufs Meer hinausgefahren und mit ihm versenkt werden. Diese Bestattung scheiterte dann aber daran, dass es nicht mehr genügend Männer gab, die die Kraft und die Kenntnisse hatten, das Boot zu Wasser zu lassen. Jetzt sind wir genau an dem Punkt, an dem etwa die Strafexpeditionen – es gab vor der deutschen ja noch eine britische –, aber auch durch die Europäer eingeschleppte Krankheiten ins Spiel kommen. Da das Boot durch das Ableben des Oberhaupts eventuell rituell gefährlich war, ist durchaus denkbar, dass man sich auf Luf freiwillig von ihm trennte.

Luf Boot
Das über 15 Meter lange und fast zehn Meter hohe Luf-Boot wurde im 19. Jahrhundert aus Holz geschnitzt und rot, weiß und schwarz bemalt. Die Segel sind aus Palmblattstreifen geflochten. © SPK / Foto: Stefan Müchler

Welche Rolle haben Strafexpeditionen beim Erwerb von Artefakten gespielt?

Strafexpeditionen haben da immer wieder eine Rolle gespielt. Sie waren allerdings bei Weitem nicht die einzige Art, zu sammeln. In den Quellen belegt sind auch andere Unrechtskontexte, etwa Grabraub oder das, was euphemistisch als „Stiller Tausch“ bezeichnet wurde: Dorfbewohner flüchteten unter Zurücklassung ihrer Habe, als sich Europäer näherten. Diese nahmen sich, was sie als sammelwürdig ansahen, und ließen das zurück, was sie als Gegenwert erachteten – etwa Tabak oder Lebensmittel. Aus Sicht der Provenienzforschung sind solche Fälle mit einem eindeutigen Unrechtskontext eher die unkomplizierten. Die überwiegende Zahl der Objekte in ethnologischen Museen kommt jedoch aus als Tausch, Kauf oder Geschenk deklarierten Zusammenhängen.

Und wie „fair“ waren diese Objekttransfers?

Das muss für jeden Einzelfall sorgfältig untersucht werden. Glasperlen oder roter Stoff beispielsweise stellten in bestimmten Zusammenhängen des frühen pazifisch-europäischen Kontakts seltene Güter und damit Luxus- oder Wertgegenstände dar – wie umgekehrt ozeanische Objekte in Europa. Metall war in den Gesellschaften ein höchst nachgefragter, neuer und seltener Wertstoff, für den man bereit war, viel zu geben. Diese unterschiedlichen Wertigkeiten in den jeweiligen kulturellen Referenzsystemen waren nicht nur den Europäern bewusst, sondern auch den Menschen im Pazifik. Malanggane – Schnitzwerke aus Neu-Irland – sind ein bekanntes Beispiel dafür. Nach der Präsentation im Rahmen des Totenfests hatten sie ihre rituelle Kraft verloren und wurden zum Verrotten weggeworfen. Als sich westliche Sammler aber dafür begeisterten, stellten die Klane diese Schnitzwerke – auch dank der inzwischen verbreiteten Metallwerkzeuge – fortan in größeren Mengen als zuvor her und verkauften sie. Das von den Sammlern für die Malanggane bezahlte Bargeld versetzte die Schnitzer in die Lage, die von den Deutschen eingesetzte Kopfsteuer zu bezahlen, ohne sich auf den Plantagen verdingen zu müssen – sehr zum Ärger der Kolonialverwaltung.

Geschenke sind aber auch eine schwierige Kategorie …

In Polynesien dienen rituell getauschte oder aus Respekt und Zuneigung gegebene Geschenke bis heute dazu, wichtige Beziehungen herzustellen beziehungsweise zu bestätigen. Erwartet wird allerdings nach einem angemessenen Zeitraum ein adäquates Gegengeschenk, allerdings kann das eventuell auch noch Jahre später erfolgen. Hier wäre etwa zu klären, ob Europäer, die in Polynesien Geschenke erhielten, diese Verpflichtung tatsächlich verstanden und nach gegebener Zeit Gegengeschenke gemacht haben, oder ob hier ein Ungleichgewicht des Austauschs vorliegt.

Das Luf-Boot verlässt die Museen Dahlem in einer 16 Meter langen und 2,5 Meter hohen Spezialkiste in Richtung Humboldt Forum. © SHF / Foto: David von Becker
Das Luf-Boot verlässt die Museen Dahlem in einer 16 Meter langen und 2,5 Meter hohen Spezialkiste in Richtung Humboldt Forum. © SHF / Foto: David von Becker

In einer Veranstaltung im Kölner Rautenstrauch-Joest Museum gab Aly an, er hätte sich im Vorfeld nicht mit Provenienzforschern in ethnologischen Museen ausgetauscht. Ihm hätte genügt, sich Inventarbücher anzuschauen.

Zweifellos ist das Sichten von Inventarbüchern und Korrespondenzen in Museen sowie von Akten und Schriften in kolonialen Archiven wichtig in der Provenienzforschung. Es gibt aber noch einige weitere Bausteine. Materialstudien etwa. Von zentraler Bedeutung sind zudem Gespräche mit Vertretern der Herkunftsgesellschaften der Objekte. Und zwar mit den Personen, die von ihrer Gesellschaft legitimiert sind, über bestimmte Objekte zu sprechen – und auch gegebenenfalls um Restitution nachzusuchen. Gerade Provenienzforschung kann dazu beitragen, unrechtmäßige und gewaltvolle Erwerbskontexte zu identifizieren. Sie kann aber andererseits sehr deutlich machen, dass es auch in einem strukturellen Setting kolonialer Ungleichheit subversive Wege und Strategien gab, die europäischen Zumutungen zu unterlaufen, zu umgehen und den Kontakt gemäß den eigenen Wertvorstellungen und Zielen planvoll zu nutzen. Kolonialgeschichte ist nie nur eine Täter-Opfer-Hierarchie, sondern stets auch eine Verflechtungsgeschichte: Die historische Handlungsmacht der pazifischen Akteure sollte keinesfalls unterschätzt, übersehen oder negiert werden, das haben mir Gesprächspartner aus Ozeanien immer wieder deutlich gemacht: Dies zu tun, wäre eine erneute, schmerzhafte und rassistische Anmaßung europäischer Deutungshoheit.

Vielen Dank für das Gespräch.

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