Leben und Werk des russisch-französischen Malers Serge Poliakoff sind ebenso außergewöhnlich wie sinnbildlich für die Geschichte der Avantgarde. Ein Familienbesuch in Paris
Von
27.08.2021
/
Erschienen in
WELTKUNST Nr. 188
Mit den Nachfahrinnen des Malers Serge Poliakoff einen Nachmittag zu verbringen fühlt sich ein bisschen an, als habe man mitten im frühsommerlich warmen Paris eine Tür zu einer verloren geglaubten Welt gefunden. Einer Welt, in der sich die Kunst der Avantgarde mit dem Film der Nouvelle Vague mischt, in der Saint-Germain-des-Prés noch keine Luxusmeile für Touristen, sondern ein Auffangbecken für Künstler, Denker, Musiker aus aller Welt ist und weniger das große Geld als die Suche nach Poesie und Schönheit das Leben bestimmt. Ist so ein Nachmittag nostalgisch? „Aber nein“, sagt Marie Victoire Poliakoff, die Enkelin des Malers, und runzelt die Stirn, „auf gar keinen Fall.“ Nostalgie, das würde ja bedeuten, dass die Vergangenheit ein abgeschlossener Raum ist, zu dem man sich höchstens noch wehmütig umdrehen kann. Die Galeristin mit dem rotblonden Bob, dem perfekten schwarzen Lidstrich und den rot leuchtenden Lippen sieht die Dinge nicht so. Die Geschichte, insbesondere die ihrer Familie, ihres Großvaters, der Kunst, ist für sie kein ferner Ort, sondern immer da, mitten im Leben.
Es ist ein heißer Tag im Juni, wir sitzen zu viert in Marie Victoires Wohnzimmer unweit des Jardin du Luxembourg. Molly, der aufgeweckte Yorkshireterrier, hat es sich neben dem Besuch auf der weißen Couch bequem gemacht, Marie Helen, die Mutter der Gastgeberin, hat sich gerade aus Versehen auf ein Schwarz-Weiß-Porträt ihres Schwiegervaters Serge Poliakoff gesetzt und zieht es nun verlegen lächelnd hervor. Um uns herum stehen Staffordshire-Keramikhunde, chinesische Vasen, Bücher, silberne Kerzenleuchter, Teeservice und allerlei kleine Objekte. Die Dame des Hauses kommentiert die Malerei, die dicht an dicht an ihren Wänden hängt: Ein Bild, ein blau-weißer Mann in Uniform, hat ihr Vater Alexis, Serge Poliakoffs einziger Sohn, vor längerer Zeit gemalt, ein anderes, eine Landschaft im Stil von Poussin, über der eine architektonische Struktur liegt, stammt von ihrer Tochter Sacha, die gerade die Pariser École des Beaux-Arts abgeschlossen hat. Die meisten anderen Werke, klein- und großformatige Arbeiten, sind von Serge Poliakoff. „Dieses Bild hier ist mein Herz“, sagt Marie Victoire und zeigt auf ein großes Gemälde, eine Art blau-rotes Hufeisen auf weißem Hintergrund, das direkt neben der Eingangstür in den Raum hineinstrahlt. Ihr Großvater hat es 1968, ein Jahr vor seinem Tod gemalt: „Für mich war das sein wichtigstes Schaffensjahr. Die Arbeiten dieser Zeit sind seine stärksten, modernsten, zeitlosesten. Deshalb hänge ich auch so sehr an diesem Bild. Wenn es nicht da ist, wenn wir es für eine Ausstellung verliehen haben und es monatelang am anderen Ende der Welt hängt, geht es mir schlecht. Ich kann kaum schlafen, bin nervös, bis es wieder bei mir ist. Es ist fast so, als fehle ein Teil von mir.“ Sie hält kurz inne, hebt den Blick zur Decke, atmet tief ein und versucht die Tränen in ihren leuchtend grünen Augen zurückzuhalten.
Sie kommen hoch, wenn sie erzählt, wie sie ihm als kleines Mädchen in seinem Atelier in der Familienwohnung in der Rue de Seine beim Malen zusah oder stolz an seiner Hand durch die Vernissagen der Hauptstadt spazierte, wenn sie sich daran erinnert, wie außergewöhnlich und besonders, wie „magisch“ jeder Moment mit ihm war. Aber vor allem, wenn sie von seiner Lebensgeschichte erzählt, dieser Geschichte, die so viele Künstler des 20. Jahrhunderts teilen: die der Flucht und des Exils. Serge Poliakoffs Kindheit muss zunächst eine glückliche gewesen sein. Im Jahr 1900 als dreizehnter Sohn eines kirgisischen Pferdezüchters des Zaren in Moskau geboren, lebte er mit seiner Familie ein privilegiertes, fröhliches Leben, das mit der Oktoberrevolution ein abruptes Ende fand: „Es war 1918, sein Cousin war gerade erschossen worden, Serge, seine Mutter und seine Schwester sollten sich auf dem Land in Sicherheit bringen. Doch er beschloss, das Land zu verlassen. Er setzte seine Mutter und seine Schwester (die eingeweiht war) im Zugabteil ab, gab vor, etwas vergessen zu haben, und verschwand. Für immer. Seine Mutter sah er nie wieder. Von da an war er ein anderer Mensch.“
In den ersten Jahren, so erzählt Marie Victoire nun, schlug sich der junge Mann mit seinem Onkel und seiner Tante als „Zigeunermusiker“ durch. Sie zogen umher, von Istanbul bis Wien, von Berlin bis Belgrad. Als er 1923 in Paris ankam, soll er verkündet haben: „Hier bin ich zu Hause.“ Dasselbe Gefühl habe ihn überkommen, als er zum ersten Mal die Kunstakademie betrat, an der er sich 1929 einschrieb. Und das, obwohl das Malen für ihn bis dahin nie wirklich ein Thema gewesen war. Serge war mehr Musiker als Maler, eine Gitarre begleitete ihn immer und überall hin. Und doch fand er in Paris, umgeben von Künstlern wie Sonia und Robert Delaunay, Otto Freundlich und anderen, eine neue Heimat, die vielleicht weniger mit dem geografischen Ort als vielmehr mit dem zu tun hatte, was er dort entdeckte: die Leinwand und die Farben.
Marie Victoire erinnert sich daran, wie er seine Pigmente in Gurken- und Marmeladengläsern aufbewahrte und sie zu seinen ganz eigenen Farbtönen mischte. Der Geruch liege ihr noch in der Nase: „Für mich ist mein Großvater ein Duft, eine Mischung aus dem Leinöl, das er immer benutzte, Tabak und seinem Eau de Toilette, ‚Knize‘ aus Wien“, meint sie und schluckt noch einmal, diesmal mit einem entschuldigenden Lächeln. „Maman ist sehr emotional“, erklärt Sacha, die ihr gegenüber auf einem Marcel-Breuer-Sessel sitzt und wesentlich beherrschter wirkt als ihre Mutter. Marie Helen fügt liebevoll hinzu: „Meine Tochter ist wahnsinnig sensibel.“
Sensibel, bestimmt, vielleicht ist es aber auch einfach die slawische Seele, von der sie so gerne sprechen. Dieser intensivere Klang der Emotionen, auf den man auch in Serge Poliakoffs Kompositionen trifft. Wer lange genug vor einem seiner Ölbilder steht und die Welt kurz ganz still werden lässt, wird sie fast körperlich spüren, diese Melancholie, die – wie bei seiner Enkelin – nicht mit Trauer zu verwechseln ist. Sie zeugt vielmehr von einer großen Liebe zum Leben und zur Welt, einem Hunger, der nie ganz gestillt werden kann. Poliakoffs Malerei habe eine metaphysische Dimension, schreiben manche Kritiker, andere sind versucht, das Vibrieren der Materie, diese Suche nach dem Absoluten mit der Kunst von Kasimir Malewitsch zu vergleichen. Serge Poliakoff selbst entdeckte die Arbeiten seines Landsmannes erst 1952 anlässlich einer Retrospektive in Paris und fühlte sich durch ihn in seinem Weg bestätigt. Über seine eigenen Arbeiten sagte der Maler gerne: „Es ist nicht nötig, diese Bilder zu erklären oder darüber zu schreiben – man muss still bleiben, dann sprechen die Werke für sich selbst.“
Marcelle, seine Frau, die er 1935 in einem russischen Nachtklub in Paris kennenlernte, sagte gerne, es gebe da nichts zu erklären, den Flügelschlag eines Schmetterlings lasse man doch auch unkommentiert. Marie Victoire nickt, ja, so haben sie das gesehen. Sie selbst verbringt ihr Leben damit, die Kunst anderer zu erklären, dafür zu sorgen, dass man sie richtig versteht. Ist sie wegen ihres Großvaters Galeristin geworden? Überhaupt nicht, meint sie, das sei Zufall gewesen: „Mein Vater hatte mir die Aufgabe überlassen, seinen Laden mit Zinnfiguren zu führen, nur wurde mir das schon bald zu eintönig. Also schlug ich jungen Künstlern vor, bei mir ihre Arbeiten zu zeigen. Das ist nun dreißig Jahre her.“
Dennoch spiele ihr Großvater in der Art und Weise wie sie Pixi, ihre zauberhafte Galerie in der Rue de Seine, führt, eine Rolle. Ihre Vorstellung davon, wie und was eine Galeristin zu sein hat, gehe eindeutig auf die Erfahrungen mit ihm zurück, meint sie und erzählt, dass sie ihre Stofftier-Meerschweinchen als kleines Mädchen nach Poliakoffs Schweizer Galeristen Janett und Larese benannte. Sie waren so oft gemeinsam bei ihnen in Sankt Gallen zu Besuch, dass das Mädchen dachte, sie gehörten zur Familie. Dieser Umgang mit Künstlerinnen und Künstlern sei bis heute ihr Ideal, sagt Marie Victoire, die sich über die aktuelle Lage des Kunstmarktes ziemlich echauffieren kann: „Heute werden Künstler oft wie Produkte behandelt, man treibt ihre Quote hoch und wenn es nicht mehr klappt, lässt man sie fallen. Das finde ich entsetzlich. Ich bin in einer anderen Kunstwelt aufgewachsen und hänge sehr an ihren Werten.“ Einer davon ist zweifellos die Integrität: „Mein Großvater hat nie aus Opportunismus mit jemandem zusammengearbeitet, den er nicht mochte. Ich schätze diese Haltung, auch wenn sie ihm vielleicht den ein oder anderen Karrierestreich gespielt hat.“
Allzu sehr geschadet hat es ihm offensichtlich nicht. Zwar trat er noch bis Anfang der Fünfzigerjahre als Gitarrist in russischen Nachtklubs auf, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, doch schon seit den Dreißigerjahren, seit der Zeit, als er sich beim „Jour fixe“ von Sonia und Robert Delaunay in Farbgebung übte, hatte er erste Erfolge. Etwa seine allererste Ausstellung in der Galerie Drouant im Jahr 1931 und die Teilnahme am Salon des Indépendants 1938. Auch der große Durchbruch ließ nach dem Krieg, nachdem er sich ganz der Abstraktion zuge-wandt und seine eigene Bildsprache gefunden hatte, nicht lange auf sich warten: 1950 feierte die Kritik seine Teilnahme an einer Ausstellung in der Galerie Denise René als „wichtigstes Ereignis der Saison“. Es folgten Gruppenausstellungen in Japan und England, 1952 eine erste Einzelausstellung in New York, in den Jahren darauf weitere in Brüssel, Paris, Bern. 1959 nahm er an der Documenta II in Kassel teil, und drei Jahre später vertrat der frisch eingebürgerte Serge Poliakoff Frankreich auf der Biennale von Venedig.
Damals war der Maler, der sich nun endlich schöne Autos und Pferderennen leisten konnte, ein Star: Der Kulturminister André Malraux verehrte ihn, Yves Saint Laurent entwarf nicht nur ein Mondrian-, sondern auch ein Poliakoff-Kleid, und in Otto Premingers Verfilmung von Françoise Sagans „Bonjour tristesse“ hängt eines seiner Bilder an der Wand. Einmal, so erzählt Marie Helen lachend, rief sogar Greta Garbo an und bat ihn um ein rosafarbenes Tableau: „Passend zu ihrem neuen Schlafzimmer … Er hat natürlich abgelehnt.“ Es sei eine wunderbare Zeit gewesen, erinnert sich die Schwiegertochter, die sich als Siebzehnjährige in Serges Sohn Alexis verliebte und so zur Familie stieß: „Wir fuhren immer alle gemeinsam seinen Bildern hinterher, von Ausstellung zu Ausstellung, es war herrlich.“
Seit seinem Tod – er starb 1969 auf dem Höhepunkt seines Ruhms an einem Herzinfarkt – kümmert sich die Familie um das Fortleben seiner Werke. Alexis Poliakoff arbeitete damals als Filmassistent, die meiste Zeit für den Nouvelle-Vague-Regisseur Jean-Luc Godard: „Als mein Schwiegervater starb, war für meinen Mann relativ schnell klar, dass er seinen Job aufgeben und sich von nun an um den Nachlass kümmern müsste, Marcelle konnte das allein nicht stemmen, es war einfach zu viel“, erzählt Marie Helen, die mit ihrem schmalen Kleid, ihrem Bob, den Perlenohrringen und ihrer schüchtern-verschmitzten Art selbst ein bisschen wirkt, als sei sie soeben einem französischen Film der Sechzigerjahre entsprungen. Sie habe tatsächlich mal eine kleine Rolle gehabt, sagt sie, auch Alexis habe sich als Komparse versucht, in „Pierrot le fou“, dem Klassiker mit Jean-Paul Belmondo und Anna Karina.
„Mein Vater hat sich aufgeopfert“, glaubt Marie Victoire, „manchmal macht mich das ein bisschen traurig. Er ist selbst so talentiert.“ Ihre Mutter winkt mit ihrer schmalen Hand und einer Grimasse ab: „Ach was“, raunt sie, „er wollte das so. Die Arbeit seines Vaters war und ist für ihn das Wich-tigste.“ Viele Künstler würden vollkommen von der Bildfläche verschwinden, weil die Nachkommen sich nicht ordentlich darum kümmern, sie und ihr Werk am Leben zu erhalten, das sei doch traurig, findet sie. Und erinnert sich an das erste große, vielleicht größte Projekt von allen: das Werkverzeichnis, eine Mammutarbeit. Allein die Gemälde umfassen fünf Bände, ein sechster verzeichnet die Radierungen und Lithografien, die Poliakoff ab Mitte der Fünfziger anfertigte. Über Jahre haben sie daran zusammen mit Gérard Schneider von der Münchner Galerie Française gearbeitet.
Mittlerweile ist die ganze Familie, die drei Frauen, natürlich Alexis, aber auch Marie Victoires Brüder und deren Kinder, in die Archives Serge Poliakoff involviert. Sie erstellen Gutachten, kümmern sich um Ausstellungen, wie die derzeitige Schau von Gouachen in der New Yorker Galerie Cheim & Read (bis 25. September) oder kürzlich die Retrospektive in den Kunstsammlungen Chemnitz. Marie Victoire hat vor einiger Zeit ein sehr schönes Buch „Serge Poliakoff, Mon Grand-Père“ herausgebracht, gerade arbeiten sie alle gemeinsam mit dem Verlag Rizzoli an einer amerikanischen Publikation.
Einer der für sie schönsten Erfolge der letzten Jahre war 2013 die große Retrospektive „Serge Poliakoff. Le rêve des formes“ im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris: „Ein großer Moment“, sagt Marie Helen, eine wichtige Anerkennung. Denn auch wenn sich Poliakoffs Kompositionen in den Sammlungen der wichtigsten Museen der Welt befinden, unter anderem der Tate Modern in London, des MoMA in New York, natürlich des Musée d’Art Moderne in Paris oder des Museum Ludwig in Köln, und ihm als Vertreter der Nouvelle École de Paris ein bedeutender Platz in der Kunstgeschichte eingeräumt wird, scheint es doch manchmal, als bliebe er neben jüngeren Kollegen wie Pierre Soulages im Schatten. „Poliakoff gehört zur Geschichte der Abstraktion, es führt an sich kein Weg an ihm vorbei, nur ist er eben nicht in Mode“, sagt Marie Victoire und klingt dabei etwas enttäuscht, vielleicht sogar verärgert. Liegt das daran, dass einige ihm vorwerfen, er habe im Grunde sein Leben lang ein und dasselbe Bild, eine Verschachtelung von bunten Farbflächen, gemalt? Vielleicht, so ganz können die drei Frauen es sich auch nicht erklären. Im Grunde sei das aber auch nicht so wichtig, meint Marie Victoire. Wichtig sei, dass er jüngere Künstlerinnen und Künstler inspiriert habe und weiterhin inspiriere. Der irische Maler Sean Scully zum Beispiel schnappte der Familie vor einigen Jahren auf einer Auktion ein Werk unter der Nase weg (sie selbst konnten es sich nicht leisten), später erzählte er in der New York Times, Poliakoff sei für ihn und seine künstlerische Entwicklung elementar gewesen. „Das bedeutet mir wahnsinnig viel“, sagt die Galeristin, „wenn junge oder auch ältere Künstler zu mir kommen und erzählen, wie sehr die Kunst meines Großvaters sie beeinflusst und ermutigt hat. Das ist für mich das Allerschönste.“
Auch seine Urenkelin Sacha scheint der Maler zu inspirieren. Kennengelernt hat sie ihren Urgroßvater zwar nicht, aber die Vierundzwanzigjährige spricht über „Daddy“ als habe er eben erst die Wohnung verlassen. „Daddy“ hat dies gesagt und das gemacht – man wundert sich ein bisschen, wie präsent dieser Abwesende in ihrem Leben ist. Das liege daran, dass ihre Mutter ihr so viel von ihm erzählt hat, sagt sie, vielleicht aber auch daran, dass Marie Victoire Wert darauf legt, ihre Tochter mit ihren Wurzeln zu verbinden. Serge Poliakoff erzog seinen Sohn in der dominierenden Religion seines Exillandes, als Katholik, doch Sacha wuchs im russisch-orthodoxen Glauben auf, als Teenager lernte sie nachmittags Russisch. Ihren achtzehnten Geburtstag feierten sie in einem russischen Restaurant: „Alle hielten Reden, wir tranken Wodka, lachten, sangen und weinten.“
Am wichtigsten sei für sie allerdings, dass Serge Poliakoffs Gemälde auf sie wie seine Avatare wirken: „Wenn irgendwo ein Bild von ihm hängt, dann ist es, als sei ein Familienangehöriger anwesend. Ich fühle mich sofort zu Hause.“ Der Gedanke, dieses Erbe, dieser berühmte Name könne sie als junge Künstlerin einengen oder hemmen, scheint ihr vollkommen abwegig: „Ich habe das nie als Last empfunden, ganz im Gegenteil: Alles, was ich tue, nährt sich aus meiner Geschichte und meinen Wurzeln“, sagt sie und erklärt damit auch das Triptychon, das sie für ihre Abschlussarbeit entworfen hat: Auf dem rechten Bild sieht man eine Frau in einem blutroten Kleid auf einem gelben Pferd sitzen, auf dem linken hockt ein Reiter im schottischen Gewand auf einem rosafarbenen Ross, in der Mitte eine abstrakte Komposition: „Das Stück in der Mitte ist ein Selbstporträt, meine Eingeweide, der Tartan verweist auf die schottischen Wurzeln meiner Urgroßmutter, die Pferde spielen auf die russische Herkunft meines Urgroßvaters und seine Familiengeschichte an.“ Gerade träumt die junge Frau, die im obersten Stock des Hauses lebt und malt, in dem auch ihre Mutter, ihre Großmutter und ihr Großvater wohnen, von ihrer ersten eigenen Ausstellung. Bis dahin kann man ihre Arbeit an verschiedenen Ecken von Paris entdecken, etwa im Restaurant Mon Square, für das sie Wandfresken gemalt hat, auf Buchcovern, auf Tüchern und Kartenspielen für das Haus Casa Lopez. Zuletzt hat sie den Besucher-Guide für das neue Museum in Fontevraud illustriert. „Sacha ist die Zukunft“, sagt ihre Großmutter, ihre Mutter strahlt, sie wirkt glücklich und stolz.
Mittlerweile ist es Abend. Es wird Zeit, sich von den drei Poliakoff-Frauen, dem kleinen Hund, dieser Wohnung, die irgendwo zwischen Frankreich und Russland, gestern und heute liegt, zu verabschieden. Zurück in den lauten Straßen von Paris dreht man sich noch einmal kurz um, wundert sich, was für eine Reise diese Begegnung war, und muss an Kandinsky denken. Es heißt, er habe in den Dreißigerjahren einmal gesagt: „Für die Zukunft setze ich auf Poliakoff.“ Es sieht so aus, als behalte der Mann recht.