Der Tragsessel war die Erfindung eines kränklichen Papstes. Die von Männern mit Stangen beförderten Passagiergehäuse wurden auch bald Mode diesseits der Alpen
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30.08.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 181
Auf einer Indienreise konnte man noch bis vor Kurzem erleben, wie sich Damen in Tragsesseln zu den Höhlen von Palitana haben transportieren lassen. In unseren Breiten sind sie längst verschwunden. Doch vom Spätmittelalter bis weit ins 18. Jahrhundert spielten sie in Europa und in den Kolonien eine im wahrsten Sinn des Wortes tragende Rolle, wie eine von Mario Döberl und Alejandro López Álvarez herausgegebene Publikation (Böhlau Verlag) jetzt eindrücklich darlegt.
Es begann mit dem kränklichen Papst Pius II. (1458–1464), der feierliche Umzüge statt hoch zu Ross nur mehr im Tragsessel bewältigte: Das Symbol der Schwäche mutierte zur Insignie des päpstlichen Triumphes. Bis zu sechs Träger schulterten die sedia gestatoria, den auf eine Plattform montierten Thron, mit dem Pontifex maximus mittels zweier seitlicher Holme, weithin sichtbar für die Gläubigen. Pinturicchio, Raffael oder Vasari haben die Päpste Pius II., Julius II., Leo X. oder Gregor XI. auf Bildnissen und Fresken, Lucas Cranach im Holzschnitt in Tragsesseln mit oder ohne Baldachin verewigt. Und Luther wetterte, „… das der Bapst … sich von menschen als ein abtgot mit vunerhorter pracht tragen lessit“. Von Rom aus verbreiteten sie sich in den europäischen Machtzentren und zählten neben von Maultieren getragenen Sänften, Kutschen und Karossen sowie Schlitten zu den vier „repräsentativen“ Vehikeln.
Im Jahr 1599 schilderte der württembergische Hofbaumeister Heinrich Schickhardt in seinem Reisebericht Genuas enge, dicht bevölkerte Gassen, in denen zu Pferd oder Wagen kein Durchkommen wäre. Deshalb ließen sich „vermögliche Leuth … in darzu gemachten Sesseln … von zweyen Männern … getragen … die seind mit Thürlein eintweder gantz beschlossen oder … haben auff all vier Seiten schöne durchsichtige Gläser dardurch sie was inen begegnet sehen mögen“. Ergänzende Federzeichnungen zeigen das an durchgeschobenen Stangen von zwei Männern getragene Passagiergehäuse mit tonnenförmigem Dach und kleinem, verhängtem Seiteneinstieg. Man hat sie für längere Wegstrecken sowie innerhalb der Stadt für Kirchgänge oder Verwandtenbesuche benutzt. Anlässlich der glanzvollen Hochzeitsfeierlichkeiten der Familie Doria wurden 1671 eigens für den Empfang der römischen Braut ein Tragsessel und eine Karosse mit den Emblemen beider Adelshäuser in Auftrag gegeben. Während der Bräutigam zu Pferd ritt, haben zwei Sklaven den bräutlichen Sessel transportiert. Alsbald konnten Mietsessel mit obligatorischen Erkennungsnummern gegenüber der Kathedrale nach jährlich festgelegten Tarifen geordert werden, deren Nutzung wegen des chaotischen Verkehrs streng reguliert war. Es etablierte sich ein Gewerbe für solcherart Transportvehikel, die auch in andere Länder exportiert wurden.
In Spanien machten der gebrechliche Kaiser Karl V. und der gichtkranke Philipp II. Tragsessel hoffähig. Bei Königinnen signalisierte der Tragsessel dem Volk, dass die Herrscherin guter Hoffnung sei! Bei königlichen Taufzeremonien erwiesen sie sich als ebenso unentbehrlich wie beim sogenannten Hervorgang 40 Tage nach der Entbindung. Ihre Ausstattung mit feinen Kristallgläsern, Samt, Brokat und Seide, mit Gold- und Silberdekor folgte der aktuellen Mode. Im Trauerfall wurden die Sessel auf Schwarz umgerüstet. Außerhalb des Hofes avancierten sie beim Klerus oder hohen Beamten, bei Bankiers und Kaufleuten zum Objekt der Begierde. Klare Grenzen bezüglich Materialien und Ausstattung schränkten unerlaubten Luxus ein. Prostituierten war ihr Gebrauch gänzlich verboten, ebenso wie jener von Kutschen oder Sänften.
Auch am Hof von Neapel stiegen sie zum wichtigen höfischen Transportmittel auf. So kamen Tragsessel für festliche oder profane Anlässe in den für Kutschen unpassierbaren Gassen zum Einsatz. Ab 1620 lernten auch die Habsburger sie schätzen. Kaiserin Eleonore Gonzaga erhielt von ihrem Bruder, dem Herzog von Mantua, 1623 ein Modell als Geschenk, das samt sechs italienischen Trägern nach Wien übersandt wurde. Bis heute sind prunkvolle, offene, mit goldgefassten Schnitzereien, kostbaren Textilien und opulenten Goldstickereien ausgestattete Tragsessel in der Kaiserlichen Wagenburg in Wien zu bestaunen.
Aus Wien schwappte die Mode zu den Wittelsbachern über. Im Münchner Marstallmuseum sind zwei zeittypische Exemplare ausgestellt: 1685 hat der Pariser Sattlermeister Saillot, der auch für Versailles tätig war, den Gala-Tragsessel für Maria Antonia, die erste Gattin Kurfürst Max Emanuels hergestellt. Für Parkausflüge rund um die Lustschlösser bot sich das leichte Modell von 1747 mit Lackdekor in den Wittelsbacher Farben Silber und Blau mit abnehmbarem Dach und versenkbaren Wänden und Fenstern zum bequemeren Ein- und Aussteigen an.
Paris war das Mekka des Luxus – auch für höfische Tragsessel wie jenen der Mademoiselle de Chartres von 1698. Sein Entwurf geht auf Jean Bérain, „dessinateur de la Chambre du Cabinet du Roi“, zurück. Er diente wiederum an den Höfen von Hannover bis München als Vorbild. Weit verbreitet waren neben solchen wappengeschmückten Prunkerzeugnissen einfachere geschlossene, mit Leder oder Wachsleinwand überzogene, hölzerne Passagierkästen.
„Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren“
Mario Döberl und Alejandro López Álvarez (Hg.),
Böhlau Verlag, Wien