Edmund de Waal

Moïse, mein teurer Freund

Sein Bestseller „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ hat Edmund de Waal berühmt gemacht. In seinem neuen Buch führt uns der Keramikkünstler ins Hôtel Camondo in Paris – und erneut in die Abgründe des 20. Jahrhunderts

Von Lisa Zeitz
27.09.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 190

Ein Videocall verbindet die Redaktion in Berlin mit Edmund de Waals Atelier in London, damit wir über Paris sprechen können. Genauer gesagt über den Schauplatz seines neuen Buchs, das Musée Nissim de Camondo in der Rue de Monceau Nr. 63 im 8. Arrondissement. Dort installiert er bald eine Ausstellung mit seinen neuen Keramiken, die er für diesen Ort geschaffen hat. Die Schau konzentriert sich ebenso wie das Buch auf die Familie des Bankiers und Sammlers Moïse de Camondo, eines weitläufigen Verwandten von de Waals Großmutter Elisabeth Ephrussi, die ebenfalls einer kunstsinnigen jüdischen Familie entstammte.

Wie kamen Sie auf die Idee, uns mit Ihrem neuen Buch nach Paris zu bringen und den Grafen Moïse de Camondo vorzustellen?

Eigentlich habe ich Paris nie wirklich verlassen. Vor rund zwanzig Jahren fing ich mit den Recherchen zu meiner Familiengeschichte an. Diese beginnt, in Teilen, in der Rue de Monceau, wo meine Pariser Cousins ihr Haus gebaut und gesammelt haben. Daher kenne ich das Hôtel Camondo schon lange. Es ist nur zehn Türen von Charles Ephrussis wundervollem Haus entfernt. Bei meinen Recherchen lief ich immer daran vorbei. Mitunter bin ich heimlich hineingegangen, verbotenerweise, und habe Möbel gestreichelt, um die Geschichte dort zu berühren. So ist es seit Langem Teil meines Lebens.

Wie kam es dann zu dem Buch?

Vor ungefähr fünf Jahren hat mich Olivier Gabet, der Direktor des Musée des Arts Decoratifs, eingeladen, im Musée Camondo auszustellen. Ich habe mich sehr gefreut. Das ist eine enorme Ehre. Als dann die Covid-Pandemie kam und alles stoppte, fand ich mich Anfang vergangenen Jahres alleine in meinem Atelier. Keiner war da, das Telefon klingelte nicht, keine Reisen mehr. Glückselig allein! Ich begann, durch das Atelier zu gehen, und so geschah es, dass ich anfing, mit Moïse de Camondo zu sprechen. Langsam wurden daraus Briefe an ihn. Und dann, ohne dass ich es überdacht oder geplant hätte, wurde daraus ein Buch. Ein unbeabsichtigtes Buch sozusagen.

Zuerst ist es seltsam, Ihre Briefe an Camondo zu lesen, denn er ist ein Fremder, der schon vor fast hundert Jahren verstorben ist. Brief für Brief erfahren wir mehr über ihn, seine Sammlung, seine Familie und ihr grausames Schicksal.

Die Geschichte der Familie ist außergewöhnlich. Und doch in vielerlei Hinsicht parallel zu anderen Schicksalen. Es ist eine weitere jüdische Geschichte, die von Assimilation handelt. In diesem Fall kommt eine wunderbare jüdische Familie von Konstantinopel nach Paris und wird pariserisch, französischer als die Franzosen. Sie verheiraten sich mit anderen Familien, und Moïse stellt eine hervorragende Sammlung französischer Kunstgegenstände des 18. Jahrhunderts zusammen, eine der großartigen, lyrischen Sammlungen, denn er betet die Franzosen an, er betet diesen Moment der französischen Zivilisation an. Und dann stirbt sein einziger Sohn Nissim im Ersten Weltkrieg. „Er gab sein Leben für Frankreich.“ Moïse entscheidet, dass er Frankreich sein Haus und seine Sammlung vermachen würde, aus Dankbarkeit. Doch nur wenige Jahre nach seinem Tod 1935 entfaltet sich die Geschichte auf grauenhafte Weise. Moïses einzige Tochter, sein Schwiegersohn und seine Enkelkinder werden nach Auschwitz deportiert und ermordet. So haben wir diese unglaublich schmerzhafte Kollision von Geschichte, von Zugehörigkeit und dem Drang dazuzugehören, dem Willen zur Assimilierung, dem Wunsch nach der Gewissheit, von dem Land, das man liebt, geliebt zu werden. Es sind Geschichten von Brüchen, von Zerrissenheit, Tragödien, die Geschichte der Juden Frankreichs und wie die Franzosen ihre eigenen Mitbürger behandelten.

Edmund de Waal Museé Nissim de Camondo Buch
Moïse de Camondo (re.) und sein Sohn Nissim, in Uniform, 1916 im Garten der Rue de Monceau Nr. 63 in Paris. Das Stadtpalais Versailles erbaut. Nissim starb im Ersten Weltkrieg, und Moïse vermachte Haus und Sammlung dem französischen Staat. © MAD, Paris

Sie erzählen die Geschichte anhand des Gebäudes, seiner Objekte und Dokumente.

Die einzige Art, wie ich Geschichten erzählen kann, ist über Orte und Gegenstände. So habe ich die Geschichte erfahren, und so versuche ich sie in diesem besonderen Haus aufzudecken.

Wie würden Sie Moïse de Camondo und seinen Vater, der auf dem Grundstück in der Rue de Monceau im 19. Jahrhundert auch schon ein großes Stadtpalais errichtet hatte, als Sammler charakterisieren?

Moïses Vater gehört derselben Generation an wie mein Urgroßvater. Der eine ließ ein riesiges Palais in Wien bauen, der andere in Paris. Ihre Sammlungen waren … „eklektisch“ wäre wohl das höfliche Wort dafür. Damit meine ich, bombastisch, voll von diesem und jenem. Da gab es alle möglichen Möbel des Empire, Gemälde alter Meister und Bilder der Haager Schule, viele Kronleuchter überall, Sie können es sich vorstellen: der Stil der 1870er-Jahre. Als seine Eltern gestorben waren, ließ Moïse das Haus abreißen. Was für ein Akt! Mein Sohn ist gerade hier im Atelier, und ich hoffe, er hört mich nicht. (lacht) Das ist der Moment, in dem man seine Beziehung zu seinen Eltern neu definiert. Moïse reißt das Haus seiner Eltern ab und liefert alles zur Auktion ein. Bemerkenswert: All die Judaika aus dem jüdischen Oratorium gibt er an das Musée de Cluny. Er verschenkt oder verkauft alles. Und dann beginnt er von vorn, mit unglaublicher Präzision und Passion sammelt er französische Kunst des 18. Jahrhunderts. Dazu muss man ein Connaisseur sein, die Dinge sind schwierig zu finden. Man braucht dafür Klarheit der Gedanken. Für ihn wird es ein Akt der Definition seiner selbst. Freud hätte es als einen Akt der Neuerschaffung seiner Identität angesehen.

Sie beschreiben einzelne wandelbare Möbelstücke und ziehen eine Parallele zu den Menschen.

Ich habe so viel Zeit in diesem Museum verbracht, dass mir immer wieder wunderschöne Möbel des 18. Jahrhunderts aufgefallen sind, die eine Metamorphose durchlaufen können. Sie sehen aus wie ein Schreibtisch oder ein Frisiertischchen, aber dann drückt man auf einen Knopf, und eine Schublade kommt heraus, und es eröffnet sich ein ganz anderes Innenleben. Die Möbel können ihren Charakter verändern. Natürlich denke ich dann an diesen jungen Mann, der von Konstantinopel aus in der Pariser Gesellschaft ankommt und sich verändern muss. Ich frage mich, wie war das? Wie fühlt sich das an? Er wird ein weltlicher Franzose und reitet im Bois de Boulogne und tanzt und jagt und geht in die Oper …

… und er sammelt Kunst.

Sammeln ist ein Akt der Selbstdefinition. Es bedeutet, etwas in der Welt zu finden, es auszuwählen und neu zu besitzen. Es in das eigene Energiefeld zu holen und in den eigenen Raum zu bringen. Wenn ich durch das Haus gehe, sehe ich wandelbare Objekte, und ich sehe, wie er sich gewandelt hat.

Edmund de Waal Museé Nissim de Camondo Buch
Seit 1936 ist das Musée Nissim de Camondo eine Zeitkapsel voller kostbarer Antiquitäten, Möbel und Skulpturen, Kronleuchter, Tapisserien und Teppiche. © Jean-Marie del Moral/MAD, Paris

In seiner Sammlung gibt es chinesische Vasen mit kunstvollen Bronzemontierungen, auch das ist eine Art Neuinterpretation. Haben Sie diese Gefäße gesehen?

Um ehrlich zu sein: Ich habe mir absolut alles dort angeschaut. Es gibt kein einziges Ding, das ich mir nicht ganz genau angesehen hätte. Ästhetisch könnten diese Objekte kaum weiter von dem entfernt sein, was ich selbst als Künstler mache. Feuervergoldete Bronzen des Barocks oder Rokokos als Montierung für chinesisches Porzellan aus dem siebten Jahrhundert – so werden asiatische Objekte europäisch gerahmt. Natürlich ist das gesamte Haus ein Rahmen, eine einzige Vitrine, in der Camondo auf brillante Weise seine Möbel, Bronzen, Tapisserien und Gemälde versammelt und damit sein eigenes Leben rahmt und alles zusammenhält. So kann man sich jemanden vorstellen, der voller Angst davor ist, Dinge in alle Welt verstreut zu sehen, Dinge zu verlieren, und der Angst vor der Diaspora hat. Er will alles zusammenhalten wie mit einer Bronzemontierung.

Gelingt es ihm?

Mit seinem Museum gelingt es ihm. Mit seiner Familie kann er es nicht. Sein herzzerreißendes Scheitern ist der schmerzhafte Kern des Buchs und des Orts. Im Gegensatz zu seiner Familie ist das Haus noch da.

Dieser Gegensatz wird besonders beim Anblick des zerbrechlichen Porzellans deutlich, das Jahrhunderte überdauert hat. Wie schauen Sie auf diesen Teil der Sammlung?

Ich habe große Sympathien für alle Menschen, die sich für Porzellan interessieren. Das ist mein Leben! Camondo hat exquisite Stücke zusammengetragen und ein Porzellankabinett für seine Sammlung mit Buffon-Vogeldekor aus Sèvres eingerichtet. Porzellan kann sehr viel von Brüchen und Gebrochenheit erzählen, aber auch vom Überleben. Vor zwei Jahren war meine Installation „Library of Exile“ in Dresden im Japanischen Palais ausgestellt. Teil der Ausstellung war ein Meissen-Service, das ich in Scherben gekauft hatte. Es gehörte zu einer Sammlung, die einer jüdischen Familie 1938 geraubt wurde. Das Service zerbrach bei der Bombardierung Dresdens. Zusammen mit einem japanischen Künstler habe ich einige Stücke mit der Kintsugi-Technik repariert, die sichtbare goldene Linien auf den Stücken hinterlässt, und in Dresden gezeigt. Camondos Porzellankabinett hat mich an all die kaputten Teller in Dresden erinnert. In beiden Fällen dienen die Objekte als Zeugen. Man muss verstehen, was überlebt und was nicht überlebt. Es geht um Besitz und Verlust. Geschichte lässt sich auf alle möglichen Arten erfahren, aber besonders schmerzlich empfindet man sie in Camondos Porzellankabinett mit seiner intakten Sammlung. Verzeihung, das war eine sehr ausgedehnte Antwort, weil es mir so sehr am Herzen liegt.

Edmund de Waal Buch Museé Nissim de Camondo
Camondo hatte ein besonderes Faible für Möbel des 18. Jahrhunderts: im blauen Salon eine Duchesse brisée im Stil Louis-quinze, circa 1740–50. © Christophe Dellière/MAD

Das Museum ist nach seinem Sohn Nissim benannt, der mit nur 25 Jahren im Ersten Weltkrieg fiel. Moïse lebte nach seinem Tod noch weitere zwanzig Jahre in dem Haus. Wie ging er mit Nissims Zimmer um?

Wer weiß, wie der Raum vorher aussah. Gleich nach seinem Tod wird er zum Schrein. Ein absolut idealisiertes Zimmer mit Jagdbildern, einem Porträt seines Großvaters über seinem Bett, etwas aus dem Besitz des Dauphin auf dem Kaminsims – reine Projektion. Sicher war Nissim ein liebevoller und charmanter junger Mann, keine Frage. Doch diese Zimmereinrichtung ist ein eindeutiger Versuch, seinen Sohn als perfekten jungen Mann zu verewigen. Das ist ein Akt elterlicher Redaktion.

Warum ist die Tochter Béatrice im Haus so wenig sichtbar?

Sie ist mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern ausgezogen. Ihr Zimmer wird daraufhin Moïses Lieblingszimmer, sein Arbeitszimmer, in dem er lebt. Wenn man übrigens von hier aus die Tür zu ihrer Garderobe und ihrem Bad öffnet, abseits des offiziellen Rundgangs, ist alles wie früher, unangetastet, staubig, herzzerreißend.

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