Heinrich Heidersbergers „Kraftwerk“

„Nichts dem Zufall überlassen“

Vor fünfzig Jahren setzte der Fotograf Heinrich Heidersberger mit der Aufnahme des Volkswagen-Werks in Wolfsburg der Industriekultur ein Denkmal. Ein Gespräch mit Benjamin Heidersberger über das künstlerische Erbe seines Vaters

Von Simone Sondermann
29.10.2021

Wie entstand vor 50 Jahren die Aufnahme „Kraftwerk der Volkswagen AG“?

Mein Vater sollte für die Olympischen Spiele 1972 in München die Wohnungen der damals sowjetischen Athleten mt Bildern der Stadt Wolfsburg ausstatten. Diese Bilder waren Gastgeschenke für die Sportler. Zwar hatte er für das Buch „Wolfsburg – Bilder einer jungen Stadt”, das 1963 zum 25-jährigen Geburtstag erschienen war, Aufnahmen gemacht, das Volkswagen-Werk fehlte ihm aber noch. Und so ist er das kurze Stück vom Schloss, wo sein Studio war, zum Werk gegangen und hat auf einer 18 mal 24 Zentimeter großen Glasplatte diese Bildikone geschaffen. 1984 wurde sie in der Ausstellung „Images et Imaginaires d’ Architecture“ im Pariser Centre Pompidou gezeigt, da war er sehr stolz drauf.

Was ist das Besondere dieser Fotografie Ihres Vaters Heinrich Heidersberger?

Das Bild ist horizontal und vertikal geschiftet, ein Verfahren, mit dem Architekturfotografen „stürzende Linien” vermeiden. Dadurch ist eine Frontalansicht möglich, auch wenn sich die Kamera nicht in der Bildmitte befindet. Die heute nicht mehr existierende Brücke zieht den Betrachter ins Bild, die Langzeitbelichtung erzeugt das glatte Wasser im Hafenbecken und den eigentümlichen Dampf. Eine surreale Anmutung, die durch die hohe Auflösung des Negatives in Hyperreale kippt, da ist jeder Ziegelstein abzählbar. Und schließlich der Mond auf der linken Bildseite.

In Erinnerung an meinen Vater habe ich eine Installation am Aufnahmestandpunkt in der Autostadt entwickelt. Ein leerer Rahmen wird so aufgestellt, dass man die Aufnahme selbst nachvollziehen kann. Das Auge tastet das Kraftwerk ab und kehrt den fotografischen Prozess um. Der Betrachter von heute verbindet sich mit dem Fotografen von damals.

Ihr Vater war in der Nachkriegszeit der Chronist der jungen Industriestadt Wolfsburg. Wie kam es dazu?

Mein Vater kam Anfang der Sechzigerjahre aus Braunschweig auf Einladung der Stadt in das junge Wolfsburg, „und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Diese Begeisterung spürt man aus vielen Bildern, besonders aber im Wolfsburg-Buch. Und Chronist war er sicher nicht im Sinne einer historischen Abfolge, sondern eher einer künstlerischen Reflexion des Lebens in der Stadt, die eine Vision beinhaltet. Davon fühlen sich heute viele Menschen angesprochen, fast mehr noch als damals. Mein Vater hat nach Stationen in Österreich, Dänemark, Frankreich, Holland, den USA und der Karibik zwei Drittel seines Lebens in Niedersachsen verbracht, vielleicht war das dann die wahre Exotik.

Heinrich Heidersberger Selbstporträt
Selbstporträt des Fotografen aus dem Jahr 1955. © Heinrich Heidersberger

Was kennzeichnet sein fotografisches Werk insgesamt?

Ich bin kein Kunsthistoriker, aber da ist erst mal die Virtuosität, ein besonderer Humor und die Präzision gepaart mit dem, was ich als intelligente Fotografie bezeichnen möchte. Er hat die Gebäude im Sinne der Architekten lesen und dem Betrachter vermitteln können. Bei seinen durch Pendel erzeugten Lichtspurbildern, den Rhythmogrammen, hat er mit der algorithmischen Kunst künstlerisch unser Zeitalter von Computer und Berechnung vorbereitet. Was mich auch fasziniert, sind die konstruierten Welten seiner Bilder, wo nichts dem Zufall überlassen bleibt, fast schon eine „Virtual Reality”, sozusagen der Sieg des Verstandes über den Zufall.

Sie haben das Institut Heidersberger gegründet und verwalten den Nachlass Ihres Vaters. Was sind die zentralen Herausforderungen dabei?

Mein Vater wollte sein Lebenswerk verkaufen, das habe ich damals verhindert. Dann habe ich mit Bernd Rodrian und der Stadt Wolfsburg vor zwanzig Jahren das Institut gegründet. Ziel ist die dauerhafte Sicherung des Werkes in einer Stiftung. Klar ist aber auch, dass wir finanziell und personell an unsere Grenzen stoßen, zumal wir auch einen guten Teil unseres Budgets selbst verdienen. Wir finden immer wieder spannende Aspekte im Werk, die es sich lohnen, genauer betrachtet zu werden, oft auch zusammen mit zeitgenössischen Künstlern. Für mich persönlich ist herausfordernd, dass ich selbst Künstler bin, zum Glück kein Fotograf, sondern im Bereich interaktiver Medienkunst, die gerade im Künstlerhaus Bethanien als Teil von Van Gogh TV zu sehen ist.

Die 1960er- und 1970er-Jahre waren  – trotz beginnender Ölkrise – vom Vertrauen in die Industrialisierung und von Aufbruchsstimmung geprägt. Heute, in Zeiten des Klimawandels, sind die Grenzen des Wachstums und die Schattenseiten der Industrieproduktion das große Thema. Wie verändert das den Blick auf die Arbeit Ihres Vaters?

Das herauszufinden ist die Aufgabe der Podiumsdiskussion zum 50. Geburtstag des „Kraftwerk der Volkswagen AG“ in der Autostadt in Wolfsburg am 4. November um 18 Uhr. Es werden Vertreter von Kunst und Industrie miteinander reden.

Heinrich Heidersberger Kraftwerk Fotografie
Heinrich Heidersberger, #4148_5 „Kraftwerk der Volkswagen AG, Wolfsburg 1971“. © Heinrich Heidersberger

Service

PODIUMSDISKUSSION

4.11.2021 um 18:00 Uhr

Autostadt in Wolfsburg und per Livestream

www.autostadt.de/veranstaltungen/kraftwerk

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