Lesser Ury hat die Facetten der modernen Metropole in den Zwanzigerjahren in unverwechselbare Bilder gegossen und unsere Vorstellungen von der Stadt in der Zwischenkriegszeit bis heute geprägt. Seine Gemälde und Arbeiten in Pastell stehen auch am Markt hoch im Kurs
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08.10.2021
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 15
Ob auf einer Messe oder in einem einschlägigen Museum, diese Bilder stechen heraus, die nächtlichen Stadtansichten mit den Straßen, in deren regennassen Oberflächen sich die gelben Scheinwerfer der Automobile aus den Zwanzigerjahren spiegeln, während auf den Bürgersteigen dünnbeinige Dämchen mit pelzbesetzten Mänteln und Regenschirmen flanieren. Die Lampen der Straßenbeleuchtung schaffen oft eine sich kühn in den Bildraum hinein verkürzende Perspektive.
Ein Unbekannter war Lesser Ury nie, auch wenn seine Popularität, in Verbindung mit seiner sperrigen Art und seinem Einzelgängertum – manche sprechen von Misanthropie –, ihm bei Künstlerkollegen nur bedingt Anerkennung verschaffte. Schon Urys Stil ist schwer einzuordnen, liegt irgendwo zwischen allen möglichen Ismen in der Zeit von etwa 1880, als er mit seiner künstlerischen Tätigkeit begann, und seinem Tod im Jahr 1931: Naturalismus, Symbolismus, (Post-)Im- und Expressionismus, Sachlichkeit … Solche Schubladen sind ja ohnehin nur Hilfskonstruktionen, um dem Ordnungsliebenden Orientierung und Beruhigung zu verschaffen. Nur nebenbei sei erwähnt, dass in diesem Zeitraum unter anderem noch Fauvismus, Futurismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus oder Figuren wie Duchamp oder Picasso auftraten.
1861 in Ostpreußen als Sohn eines jüdischen Bäckermeisters geboren und nach dem Tod des Vaters 1871 mit der Familie nach Berlin gezogen, ging Ury für ein Jahr an die Düsseldorfer Akademie, reiste nach Brüssel, Antwerpen und Paris, studierte wieder in Brüssel, anschließend in Paris, bewarb sich vergeblich an der Akademie in Berlin, schrieb sich dann in Stuttgart, Karlsruhe und München ein, bevor er sich 1887 endgültig in Berlin niederließ. Auf Empfehlung von Fritz von Uhde, den er in München kennengelernt hatte, wandte Ury sich an den 14 Jahre älteren und bereits erfolgreichen Max Liebermann, der ihn protegierte. Allerdings nur bis 1891, als Ury behauptete, die Lichteffekte in Liebermanns berühmtem Bild „Flachsscheuer in Laren“ (1887, heute Nationalgalerie Berlin) gemalt zu haben. Liebermann soll erwidert haben, er würde sich erst dann an den Staatsanwalt wenden, wenn Ury behaupten sollte, er, Liebermann, hätte Urys Bilder gemalt. Hier zeigt sich nebenbei die Spannung zwischen Großbürgertum (und entsprechender Karriere) und einem Aufsteiger aus ärmlichen Verhältnissen (samt unstetigem Ausbildungsgang) in der Kaiserzeit. Erst unter Liebermanns Nachfolger Lovis Corinth als Präsident konnte Ury 1914 Mitglied der Berliner Secession werden und dort ausstellen. Eine Retrospektive bei Paul Cassirer brachte ihm dann 1916 den Durchbruch.
Zweifellos steht Ury in der Nachfolge der Impressionisten, zumindest was die Themen Großstadt, Technik und Fortbewegungsmittel angeht. Degas und Monet lassen grüßen, wie auch Whistler. Daraus bastelte Ury seine unverwechselbare, eigene Melange, zusätzlich zu dem Umstand, dass elektrische Straßenbeleuchtung, die Scheinwerfer der Automobile (und, gelegentlich, der elektrischen Straßenbahn) neue Lichterscheinungen erzeugten. Ury ist der Maler Berlins, bei Tag und bei Nacht, auf der Straße und im Café. Die Vorstellung oder das Bild von Berlin – vor allem in den Zwanzigerjahren – ist stark von seinen Schilderungen geprägt. Hier bestätigt sich wieder einmal das Bonmot Oscar Wildes, dass das Leben die Kunst mehr nachahme als umgekehrt.
Das spiegelt sich auch in den Preisen für Urys Bilder. Eine Straßenszene am Kurfürstendamm, mit Pferdedroschke und Personage, darunter die obligatorische Dame, an einem grauen Tag nach dem Regen, gemalt 1910 in Öl auf Leinwand, erzielte im November 2010, als bisheriger Höhepunkt, bei Christie’s in New York 560.000 Dollar. Nur wenige Tage später verkaufte Grisebach eine Ansicht von „London im Nebel“ von 1926 für 370.000 Euro, wofür der Einlieferer an selber Stelle im Juni 1988 noch 320.000 D-Mark bezahlt hatte. Fast noch mehr als die Ölbilder überzeugen die Arbeiten in Pastell, eine Technik, die Ury virtuos beherrschte. Das in dieser Technik ausgeführte „Brandenburger Tor vom Pariser Platz aus gesehen“ von 1928 mit Automobildroschken links und rechts sowie Dame in der Bildmitte ging im vergangenen Juni bei Ketterer für 270.000 Euro (Taxe 100.000 Euro). Aufsehen erregte 2014 die Entdeckung eines Pastells „Berlin Alexanderplatz“ aus der Zeit um 1915 / 20 bei „Kunst und Krempel“ im Bayerischen Fernsehen. Für 160.000 Pfund wechselte das Bild bei Christie’s wenig später den Besitzer.
Einen sehenswerten Querschnitt durch Urys Werk, Stadtansichten und Landschaften – nicht nur in und um Berlin, sondern auch von seinen Reisen, etwa nach London oder in die Niederlande – sowie Interieurs und Cafés, kann man noch bis zum 24. Oktober jeweils am Wochenende im Süden der Republik bewundern, im schön gelegenen Schloss Achberg nahe dem Bodensee. Kurios ist die Verbindung zu Berlin beziehungsweise Preußen: Der ehemalige Sitz des Deutschordens ging nach der Säkularisation in den Besitz der Hohenzollern über und wurde damit südlichster Teil Preußens. Seit 1988 gehört das Schloss dem Landkreis Ravensburg.
Schloss Achberg
„Lesser Ury – Stadt Land Licht”
bis 24. Oktober, Katalog 18 Euro
www.schloss-achberg.de