Die Fotografin Herlinde Koelbl hat dreißig Jahre lang Porträts von Angela Merkel gemacht. Nun erscheint ihre bewegende Langzeitstudie der scheidenden Kanzlerin als Buch
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15.11.2021
Der Blick von unten nach oben, die leicht verhangenen Augen, das angedeutete Lächeln – ihre vermeintliche Harmlosigkeit, die naive Ausstrahlung, die sie sich noch als Mittdreißigerin bewahrte, war, wie man heute weiß, eine der stärksten Waffen der Angela Merkel auf dem Weg an die Spitze. Dass das »Mädchen«, wie Kohl sie nannte, so lange von ihren Gegnern notorisch unterschätzt wurde, bis kaum mehr Gegner übrig waren, gehört heute schon zur Geschichtsschreibung über Deutschlands erste Kanzlerin. Im Laufe ihrer politischen Karriere wurde ihr Blick gerade und fest, statt Strickjacke trug sie nun Hosenanzug und die Strapazen des Amtes gruben sich in ihr Gesicht. Die Fotografin Herlinde Koelbl hat Angela Merkel, die zur mächtigsten Frau der westlichen Welt aufstieg, in einer außergewöhnlichen Langzeitstudie begleitet, die nun als Fotobuch bei Taschen erscheint.
Zwischen 1991, als Merkel mit 37 Jahren zur stellvertretenden CDU-Vorsitzenden gewählt wurde, und 2021, kurz vor ihrem Rückzug vom Politikerinnenleben, entstand fast in jedem Jahr ein Porträt. Koelbls Bilder zeigen, wie das Alter und die Macht einen Menschen formen und verformen, doch sie sind auch Ausdruck einer berührenden Offenheit zwischen den beiden Frauen vor und hinter der Kamera. „Angela Merkel hat die Auswahl der Bilder mir überlassen, im vollen Vertrauen. Und nie auch nur versucht, Kontrolle auszuüben“, erzählt die Fotografin, die sich schon vor zwanzig Jahren einmal in Langzeitprojekt mit den „Spuren der Macht“ in der Physis und Psyche von Politikerinnen und Wirtschaftsbossen beschäftigt hat.
Der Fotoband umfasst zudem Interviews zwischen Koelbl und Merkel sowie mehrere Essays sowohl zur scheidenden Bundeskanzlerin als auch zur Fotografin. Eine von Merkels großen Stärken war stets der nüchterne, unsentimentale Blick – auf die Welt und auch auf sich selbst. Schon 1998, dem Jahr, in dem sie CDU-Generalsekretärin wird, sagt sie: „Ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik finden. Dann will ich kein halbtotes Wrack sein.“ Es ist für sie zu hoffen, dass dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist.
„Herlinde Koelbl. Angela Merkel. Portraits 1991–2021“
Deutsches Historisches Museum, Berlin
29. April bis 4. September 2022