Adolf Dietrich wird oft als der große Naive der Neuen Sachlichkeit verklärt, dabei ist die Kunst des Schweizer Außenseiters erstaunlich konzeptuell und ihrer Zeit weit voraus. Am Bodensee kann man seine Malerei entdecken
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07.12.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 166
Wahrscheinlich heißen im späten 19. Jahrhundert alle Kanarienvögel Hansi. Der immer gleiche Name signalisiert, dass das Tier austauschbar und allgemein ist, einen von Gott oder der Natur vorgegebenen Zweck erfüllt. Auch wenn Kinder sterben, geben die Eltern dem Nachgeborenen häufiger wieder denselben Namen. Die Eltern finden Trost, und das Kind erfüllt das eigentlich für das verstorbene Kind vorgesehene Schicksal. Dieser Pragmatismus mag heute den Atem stocken lassen, aber als Adolf Dietrich 1877 in der Kleinstadt Berlingen am Bodensee im Schweizer Kanton Thurgau geboren wird, ist das durchaus noch üblich. Er ist das jüngste von sieben Geschwistern und erhält den Namen eines schon als Säugling gestorbenen Bruders. Seine Eltern, Heinrich und Dorothea, sind Kleinbauern. Adolf, den der Dorflehrer als „bleichen schwächlichen Knaben von kleiner Statur“ mit einer “Vorliebe fürs Zeichnen“ beschreibt, ist anders, sensibler. Er liebt Tiere über alles. Aber auch Wolken, Pflanzen und Blumen erregen in ihm den Wunsch, „diese Wundersachen nachzuahmen“. Vielleicht spürt er da schon den unausgesprochenen Auftrag, dass er es ist, der sich um seine Eltern im Alter kümmern soll.
Während seine Brüder in die Lehre gehen, in Städte oder weg aus der Schweiz ziehen, bleibt er da. Das Geld fehlt, er bleibt ohne Ausbildung, schlägt sich als Maschinenstricker durch, verdingt sich später als Wald- und Gleisarbeiter. Er versorgt die Eltern und bis ins hohe Alter auch den Hof. 1957 stirbt er dort, wo er geboren wurde. Das Haus und seinen gesamten Nachlass vermacht er der Thurgauischen Kunstgesellschaft, die sein Erbe bis heute verwaltet. Doch Dietrich hatte einen größeren Auftrag. Über Jahrzehnte hinweg hat er seine ländliche Umgebung in mehr als tausend Gemälden festgehalten, sie wieder und wieder gezeichnet, fotografiert, gemalt: die Hügel, den vereisten See, verschneite Wälder, Felder aus Schilf, das Abendrot, die Dampfer, den Steg hinter dem Haus. Da sind die Porträts seiner Familie, der Nachbarn und immer wieder von Kindern und jungen Mädchen. Sein um 1900 begonnenes Werk, das in den Dreißigern unter dem Vorzeichen der Neuen Sachlichkeit und der „Naiven Malerei“ internationale Beachtung fand, bleibt bis heute ein Mysterium.
Vordergründig erscheint Dietrichs Malerei wie eine verfeinerte Form von Volkskunst, ein bäuerlicher Realismus, der merkwürdig kühl, betont „sachlich“ bleibt. Doch schaut man genauer hin, erkennt man, wie konstruiert diese Natur ist. Man kann alles in halluzinogener Klarheit sehen, das Leuchten der Beeren an den Büschen, die Haare von Iltissen, Krallen, Blüten, Schmetterlingsflügel. Lebendiges und Totes sind oft kaum zu unterscheiden. Unter den Puppengesichtern von Frauen und schlafenden Kindern scheint Leben zu pulsieren, aber es ist eingeschlossen. Eichhörnchen, die in Ästen sitzen, Füchse, die durch Wälder streifen, muten an wie Präparate, die jemand wie in einem Diorama in die Landschaft drapiert hat. Viele der Tiere erscheinen zweidimensional, wie ausgeschnitten und in die Gegend montiert. Erlegte, kopfüber an Haken hängende Enten und Marder lässt Dietrich aussehen, als würden sie sich gerade unterhalten, man kann sie förmlich einander zuraunen hören.
Dann sind da diese multiplen Perspektiven und Fluchtlinien, die Größenverhältnisse, Nähe und Ferne durcheinanderbringen. Landschaften oder Interieurs, die wie Kulissen wirken, vor denen Dietrich Stillleben arrangiert. Über Jahre hinweg malt er immer wieder denselben Blick aus seinem Atelierfenster in das kleine Barockgärtchen des Nachbarhauses. Auch hier wirkt die Szenerie perspektivisch verzerrt. Ein Wind scheint zu wehen, der nur einige Büsche, Blumen und Gräser bewegt, während andere kerzengerade stehen bleiben. Der Garten könnte auch ein Gemälde auf einem Rollo sein, das wieder eine andere Realität freigibt, wenn man es hochzieht.
Diese gemalten Präparate zeigen nicht die Realität selbst. Sie lösen ein Gefühl für eine vergangene Realität aus – wie ein gläserner Sturz, unter dem nicht nur ausgestorbene Pflanzen- und Schmetterlingsarten, sondern auch ein menschliches Leben kunstvoll arrangiert wurde. So wie Dietrich ein Ersatz für seinen toten Bruder ist, eine Art Zweitversion eines nicht gelebten Lebens, so entsteht in seiner Malerei eine zweite, doppelgängerische Heimat. Und wie die Gemälde ist auch die Künstlerfigur Adolf Dietrich ein hybrides Konstrukt, erschaffen aus ländlicher Tradition und der Berührung mit der Moderne. Um die Jahrhundertwende, als er auf seinen Wanderungen bereits Skizzenbücher und erste Ölbilder anfertigt, findet er nur in einem befreundeten Bäckerlehrling ernsthafte Unterstützung. Malen, das ist in Dietrichs ersten Jahrzehnten etwas, das man nur tut, wenn man nicht arbeiten muss. Als die Mutter 1905 stirbt, wird es noch schwerer mit dem Malen, Dietrich muss neben der Waldarbeit nun auch den Haushalt führen.
Aber er gibt nicht auf. Er fängt sogar an, Kunstvereine zu kontaktieren, was 1913 schließlich zum Erfolg führt: „Immer aber zog es mich gern aus dem täglichen Kampf um’s Dasein zu stillen Stunden des Malens zurück & so kam es, dass ich etwas zum Ausstellen in Zürich und Konstanz zusammenbrachte, wo ich auch einiges verkaufte.“ 1917 wird die renommierte Galerie Goltz in München auf Dietrich aufmerksam. Er verkauft vier Gemälde. Von da an nimmt die Künstlerlaufbahn rasant an Fahrt auf. Als Werke von ihm 1919 in der Mannheimer Kunsthalle zu sehen sind, entdeckt ihn Herbert Tannenbaum, der Dietrich 1922 und dann 1925 in seiner Mannheimer Galerie Das Kunsthaus zeigt. Bei der zweiten Ausstellung werden 40 Gemälde verkauft. Nun kann Dietrich von seiner Kunst leben.