Von Kafkas Zeichnungen über die Wiederentdeckung der Fotografin Vera Mercer bis zu einer neuen Geschichte Michelangelos: die Kunstbücher des Jahres der WELTKUNST Redaktion
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21.12.2021
Das bisher umfassendste und schönste Buch über Frida Kahlo ist gerade im Taschen Verlag erschienen: Alle ihre Gemälde und Zeichnungen sind darin versammelt, es gibt rührende Fotografien, Tagebuchseiten und Briefe, die ihre von Kunst, Politik, Krankheit und Verlusten geprägte Biographie illustrieren, aber auch von viel Liebe und einem unbändigen Lebenshunger erzählen. Der Herausgeber Luis Martín beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Künstlerin. Das Werkverzeichnis ist ein Must-Read der uferlosen Frida Kahlo-Literatur. Lisa Zeitz
An Studien über Michelangelo herrscht wahrlich kein Mangel, aber dieses Buch ist ein echter Meilenstein. Der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp beschäftigt sich seit fünfzig Jahren mit dem Universalkünstler und hat jetzt eine in jeder Beziehung monumentale Darstellung vorgelegt. Alles, was man zu Michelangelos Leben und Schaffen dank einer unüberschaubaren, schon Jahrhunderte währenden Forschung weiß, ist bei Bredekamp präsent und nachvollziehbar. Aber es ist keine Biografie, sondern eine „Geschichte der Werkformen“, wie er selbst es nennt. In eindringlichen, ausführlichen Analysen schreitet er die Malereien, Skulpturen und Architekturen vom David über die Fresken in der Sixtinischen Kapelle bis zur Kuppel des Petersdoms ab. Dabei lässt er den weiten Horizont des Renaissance-Humanismus vorbei ziehen, aus dem Michelangelo schöpfte. Bredekamp entkräftet viele gängige und stereotype Deutungen und entwickelt stattdessen eigene Kategorien wie „Panempathie“, „Inversion“ und den „proteischen Eros“, die wie ein Generalschlüssel zum Verständnis das ganze Werk durchziehen. Das klingt theoretisch, ist es aber nicht, sondern führt eindringlich vor, wie Michelangelo sich immer wieder weigerte, fremde Projektion zu erfüllen und stattdessen seine eigene Überwältigung bei der Erfahrung von Natur, Mensch und Dingwelt in eine ungeheure, nie dagewesene Formenwelt zu überführen, die ihre Wirkung – aber auch ihre Brisanz – nie verlieren wird. Es gibt viel zu lesen, zu denken und zu sehen bei Bredekamp. An allem kann man sich berauschen. Sebastian Preuss
27 Jahre alt ist die Musikerin und Komponistin Gabriële Buffet, als sie 1908 dem jungen Maler Francis Picabia begegnet. Wer ist diese Frau, für die Marcel Duchamp 48 Stunden quer durch Europa reist, nur um eine Stunde mit ihr am verlassen Provinzbahnhof von Andelot zu sitzen? Die Francis Picabia dazu bringt, seine Malerei von Grund auf neu zu denken? Die ihrer Zeit und ihrem Mileu so weit voraus war? Anne und Claire Berest haben die Geschichte ihrer Urgroßmutter recherchiert: „Wir haben dieses Buch vierhändig geschrieben,“ sagen die beiden, „in der Hoffnung, dass aus dieser Seltsamkeit etwas Schönes entsteht.“ Es ist gelungen, und wie! Zwischen die Stunden des Rausches und der künstlerischen Revolution mischt sich immer wieder der Dialog der beiden Schwestern. Annabelle Hirsch, Kunsthistorikerin und geschätzte Weltkunst-Autorin, hat das Porträt der visionären Kunsttheoretikerin mit viel Gefühl ins Deutsche übersetzt. „Ein Leben für die Avantgarde. Die Geschichte von Gabriële Buffet Picabia“ ist im Aufbau Verlag erschienen. Lisa-Marie Berndt
In den Fotografien von Vera Mercer kulminiert ihr ganzes Leben. Die Künstlerin, 1936 in Berlin geboren und Weltenbummlerin zwischen Paris und Omaha, liebt neobarocke Tableaus. Dafür arrangiert sie Pflanzen und Tiere in mitunter schrägen Konstellationen wie auf einer Bühne. Und schon ist alles präsent: Mercers Ausbildung als Tänzerin, ihre Zeit mit Daniel Spoerri und als Fotografin der Künstlergruppe Nouveaux Réalistes. In den Siebzigerjahren gab es eine kreative Pause, in der sie mehrere Restaurants in Nebraska eröffnete und so das Essen zu ihrem Thema machte. Vor zwei Jahrzehnten kehrte Vera Mercer dann zur Fotografie zurück. Ein Glück, wie ihr jüngstes Buch mit 50 opulenten Motiven wie zarten Stillleben in Schwarz-Weiß belegt. Christiane Meixner
Nach dem Tode Franz Kafkas sollten sowohl seine Schriften als auch seine Zeichnungen vernichtet werden. Bekanntlich erfüllte sein Freund Max Brod keinen der beiden Wünsche und bewahrte das Werk. Die meisten Zeichnungen waren allerdings lange unter Verschluss, sie lagerten als Nachlass von Brods Sekretärin bis vor Kurzem in einem Schweizer Bankschließfach. Im Jahr 2019 erstritt die Iraelische Nationalbibliothek ihren Anspruch auf das Konvolut – und öffnete somit die Tür zu seiner Erforschung. Der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher hat Kafkas gesammelte Zeichnungen nun als Buch herausgebracht, 163 meist mit schnellem Strich auf Notizzetteln oder Postkarten hingeworfene oder in einem Zeichenheft versammelte Illustrationen. Und lässt uns so einen neuen, ganz erstaunlichen Kafka entdecken – humorvoll, pointiert und ein wenig leichthändiger als der große Literat menschlicher Beklemmung. Simone Sondermann
Das Leben der Berlinerin Manuela Alexejew klingt wie ein Roman. Das fand auch der Journalist und Autor Thomas Kausch und schrieb gemeinsam mit ihr ein Buch darüber. In einem amüsanten und authentischen Plauderton geht es in dieser Biografie um eine verunglückte Modelkarriere, eine Zeit als Pan-Am-Stewardess, als das Fliegen noch echten Glamour hatte, legendäre Partys in New York, aber vor allem um die exquisite Kunstsammlung, die Alexejew gemeinsam mit ihrem Mann Carlos Brandl über die Jahre aufgebaut hat. Das im Steidl Verlag erschienene Buch ist dabei auch eine Chronik eines sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant veränderten Kunstmarkts und zeigt auf, wie sich mit museumswürdiger Gegenwartskunst leben lässt, ohne das eigene Heim zu einem White Cube festzufrieren. Sehr lesenwert. Clara Zimmermann