Stoa169 in Polling

Akropolis im Pfaffenwinkel

Der Süden Bayerns ist um eine Attraktion reicher: In Polling haben sich mehr als 100 Künstlerinnen und Künstler mit einzigartigen Säulen verewigt. Zu Besuch in der Stoa169

Von Tim Ackermann
25.02.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 191

Eine tragende Rolle hat die Säule in der westlichen Kunstgeschichte lange nicht mehr gespielt. Tempel werden in unseren Breitengraden nur noch selten gebaut, und wenn doch, dann in einer filigranen Skelettbauweise, die ihre tragende Stahlstruktur hinter Glasfassaden zu verbergen sucht. Die Säulenheiligen sind seit Darwins Profanisierung der Schöpfung in die Bedeutungslosigkeit argumentiert worden, und ihre heutigen Pendants besteigen allenfalls Trittleitern in Fußgängerzonen. An Schulen und Universitäten werden zwar weiterhin antike Kapitellformen gepaukt, die jedoch in der Gegenwart keine ästhetische Blüte mehr hervorbringen. Es steht, kurz gesagt, nicht sehr gut um die Säule.

Bis jetzt, muss man einwenden. Denn im bayerischen Pfaffenwinkel, gut 50 Kilometer südlich von München, hat ein Kunstprojekt die Ehrenrettung des verzierten Pfeilers übernommen: Stoa169 heißt das Bauwerk in der Gemeinde Polling, dessen alleiniger Zweck ist, von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern gestaltete Säulen zur Schau zu stellen. Dieses ungewöhnliche Kunstmuseum, das ganz ohne Wände auskommt, hat seinen Namen von der antiken stoa geborgt, jener berühmten Wandelhalle zu Füßen der Athener Akropolis, die den Göttern und der Philosophie diente.

Stoa 169 Bernd Zimmer
Der Künstler Bernd Zimmer ist der Initiator der Stoa169. © Foto: Catherine Peter

Indien inspirierte zur Stoa-Idee

Eine weitere Inspiration waren die Säulenvorhallen hinduistischer Tempel im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. So erzählt es Bernd Zimmer, Künstler, Initiator und Verwirklicher des Stoa169-Projekts, als er den Gast am Bahnhof im Empfang nimmt: „Vor über 30 Jahren habe ich in Chidambaram die 1000-Säulen-Halle besucht, in der kein Pfeiler dem anderen gleicht. Da kam mir die Idee – zur Jahrtausendwende wollte ich 1000 Künstler einladen, und jeder sollte individuell eine Säule gestalten.“ Der Millenniumswechsel verstrich leider ungenutzt. 2016 aber, nach einer zweiten Indienreise, gründete Bernd Zimmer wirklich eine gemeinnützige Stiftung und reduzierte zugleich das Ausmaß seiner Idee: 13 mal 13 Säulen sollten nun das praktikablere Grundraster seiner Stoa bilden, die 169 Pfeiler kamen auch in den Namen. Am Ende sind es 121 geworden. Elf mal elf.

Zunächst sieht man allerdings die Säulen vor lauter Wald nicht. Denn der Weg vom Parkplatz, wo Zimmer seinen Mercedes abstellt, führt an einem baumbestandenen Saum entlang, den munter dahinplätschernden Fluss Ammer immer zur Linken. Bis sich in einer Biegung das Gehölz zurückzieht, man den Kopf nach rechts wendet und sich ein bunter Tupfer ins Blickfeld schiebt, dann ein zweiter und ein dritter. Schließlich steht die Stoa169 in ihrer vollen Pracht da. Errichtet auf einer grünen Wiese vor dem Dunkel des Waldrands. Und schon von Ferne wird das konzeptuelle Spannungsverhältnis von Uniformität und Uneinheitlichkeit deutlich: Ein Säuleneinfall scheint verrückter als der nächste. Und doch tanzt keiner aus der Reihe.

Stoa 169
„Mongolischer Jäger“ von Sun Xun. © Foto: Catherine Peter

Ein Bauwerk wie ein John-Lennon-Song

Mit Abschluss des zweiten Bauabschnitts wurde das Projekt Mitte September offiziell eröffnet. Eineinhalb Jahre haben die Arbeiten gedauert, das ist nicht so lange, wenn man bedenkt, dass der Lockdown im Frühjahr 2020 viele Dinge verzögerte. So blieben Werke aus Afrika oder Australien längere Zeit im Transport hängen. Auf die logistischen Mühen zu verzichten wäre Zimmer dennoch nicht eingefallen, denn die außereuropäische Kunst gehörte von Anfang an zum Konzept dazu: „In Indien symbolisiert das Dach den Himmel. Dieser Himmel wird bei der Stoa von Künstlerinnen und Künstlern aller Kontinente gemeinsam getragen“, erklärt der Ideengeber.

Zimmer schreibt auch im Begleitheft, es sei ihm ein Anliegen, mit der Stoa169 „ein Zeichen für internationale Solidarität und Frieden zu setzen“. Wenn man böswillig ist, könnte man nun behaupten, Zimmer habe mit der Halle gewissermaßen das Äquivalent zu John Lennons Song „Imagine“ auf die Wiese gebaut: Imagine all the artists, living life in peace! Der Sound klingt etwas kitschig. Und doch ist die dazugehörige Idee absolut überzeugend.

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