Ukraine-Krieg: Yevgen Nikiforov in Kiew

„Wir hören Schüsse und Explosionen“

Der ukrainische Architekturfotograf Yevgen Nikiforov harrt, gehandicapt durch einen Verkehrsunfall, im umkämpften Kiew aus. Wir sprachen mit ihm am Telefon über seine Situation vor Ort

Von Simone Sondermann
27.02.2022

Herr Nikiforov, wie geht es Ihnen?

Im Moment geht es mir nicht so gut.

Sie befinden sich noch immer in Kiew?

Ja, zu Hause in meinem Apartment. Ich hatte vor zweieinhalb Monaten einen schweren Verkehrsunfall und habe mehrere Verletzungen erlitten, gebrochene Hände und einen offenen Bruch am Bein. Der Heilungsprozess ist sehr langwierig, und ich kann nicht laufen. Deshalb haben meine Frau und ich entschieden, in unserem Apartment in Kiew zu bleiben.

Haben Sie Zugang zu einem Keller oder Schutzraum?

Nein. Das geht nicht, weil ich nicht laufen kann, ich könnte das nur mit fremder Hilfe. Wir haben überlegt, mit dem Auto die Stadt zu verlassen, aber uns entschieden, das nicht zu tun.

Heute, am Samstag, gab es nicht so viel Bombenalarm, aber gestern, am Freitag, gab es sechs- oder siebenmal während des Tages Alarm. Außerdem hören wir tagsüber Schüsse und Explosionen.

Wie haben Sie den unmittelbaren Beginn des Krieges erlebt?

Am 23. Februar habe ich begriffen, dass all die Unternehmungen der russischen Regierung logische Schritte auf den Krieg hin wahren. Ich bin um 4 Uhr morgens aufgewacht, habe mein Smartphone genommen und habe ein paar News-Kanäle gecheckt und ich habe gesehen, dass ballistische Raketen an allen möglichen Orten in der Ukraine eingeschlagen haben. Natürlich konnte ich dann nicht mehr schlafen. Danach überschritten die Truppen mit Panzern und schwerem Gerät die Grenzen, das sah ich in verschiedenen Telegram-Kanälen.

Wie steht es momentan um die tägliche Versorgung in Kiew?

Es wird immer schwieriger wegen der Bombenalarme. Supermärkte müssen tagsüber immer wieder schließen, und es gibt lange Schlangen, wenn sie offen haben. Wasser wird knapper, also Wasser in Flaschen. Das Wasser aus der Leitung ist nicht sauber genug, nicht so wie in Deutschland, aber wir müssen jetzt mehr und mehr darauf ausweichen.

Erzählen Sie mir etwas über Ihre Arbeit als Fotograf. Was haben Sie vor dem Krieg und vor Ihrem Unfall gemacht?

Ich hoffe, ich kann das bald wieder machen (lacht traurig). Ich arbeite an unabhängigen dokumentarischen Projekten, vor allem im Bereich der Fotografie. Mein Hauptthema ist der städtische Raum als ein Schlachtfeld ideologischer Gegensätze. In dem Projekt, an dem ich in den letzten sechs bis acht Jahren gearbeitet habe, geht es um das sowjetische Erbe in der Architektur, das man noch in Städten in der gesamten Ukraine finden kann und zu dem wir heute ein widersprüchliches Verhältnis haben. Ich habe Bücher veröffentlicht mit dem Berliner Verlag Dom Publishers über Mosaike der Sowjetzeit. Als ich damit angefangen habe, war der Demokratisierungsprozess in der Ukraine im vollen Gange, dadurch ging es dabei zum einen um die ukrainische Kunstgeschichte und zum anderen darum, dass dieses Erbe begann zu verschwinden aus den Städten. Für das erste Buch bin ich drei Jahre durch die Ukraine gereist und habe diese Mosaike fotografiert.

Es gibt auch einen Instagram-Kanal, wo man diese Arbeiten sehen kann.

Ja, genau.

Was erwarten Sie nun von der Nato, von den westlichen Staaten?

Natürlich Unterstützung für mein Land in sehr gefährlichen Zeiten, im Augenblick des Krieges. (unterbricht) Fuck, da sind Schüsse hinter dem Fenster. Das letzte Mal, dass es Krieg in Kiew gab, war vor 80 Jahren, im Zweiten Weltkrieg. Es war nicht vorstellbar, dass so etwas im Zentrum von Europa wieder passiert, im geografischen Zentrum Europas. Wir brauchen Schutz des Luftraums. Die größte Bedrohung der ukrainischen Städte kommt durch ballistische Raketen. Und natürlich braucht es Sanktionen, die Welt muss Russland zeigen, dass das nicht geht, was sie tun.

Immer mehr Länder beschließen Waffenlieferungen.

Ja, ich weiß gerade nicht, wie das Kiew helfen wird, die Stadt ist blockiert, im Westen, Im Norden und teilweise kommen Truppen auch von Osten. Ich stamme nicht aus Kiew, sondern wurde in der kleinen Stadt Wassylkiw geboren, das ist weiter südlich und ein wichtiger strategischer Punkt. Meine Eltern leben dort, und die Russen haben die ganze Nacht angegriffen. Es gibt da zwei Flughäfen. Wenn die russischen Truppen die einnehmen, können sie Kiew auch von Süden blockieren. Dann gibt es eine Belagerung. Was helfen kann, nicht nur von der Politik, sondern auch von jedermann, ist den Russen zu zeigen, dass sie nun Außenseiter sind, im Sport, im kulturellen Leben, um ihnen zu zeigen, dass es falsch ist, was sie tun.

Was erwarten Sie von den nächsten Tagen?

Ich glaube, heute wird es wieder eine harte Nacht. Letzte Nacht zwischen 4 und 6 Uhr morgens haben wir viele Gefechtsgeräusche gehört. Ich lebe 200 Meter von einem militärischen Stützpunkt entfernt, von einem der Headquarter, es ist eines der wichtigen Ziele für die Russen.

Aber Sie können nicht woanders hin?

Es ist schwer zu sagen, wo es sicherer ist in Kiew. Es ist so unvorhersehbar. Es wurden auch schon Wohnhäuser getroffen, die weiter weg waren von militärisch relevanten Zielen.

Yevgen Nikiforov neben einer Plastik von Antony Gormley Ukraine-Krieg Künstler
Ein Bild aus friedlichen Tagen: Der Fotograf Yevgen Nikiforov neben einer Plastik von Antony Gormley am Crosby Beach in Merseyside, England. © Yevgen Nikiforov

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