Seit zehn Jahren befragt Christoph Amend in seiner Kolumne für die Weltkunst den Kurator Hans Ulrich Obrist. Ein Jubiläumsgespräch über Nachhaltigkeit, das Ende der klassischen Ausstellung und ein Archiv der Erinnerungen
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31.03.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 197
Hans Ulrich Obrist, guten Morgen, wie schön, dass wir uns mal wieder über Video sehen. Normalerweise frage ich Sie jeden Monat, was Sie gesehen haben. In diesem Monat feiern wir jedoch ein Jubiläum: Unsere Weltkunst-Kolumne erscheint jetzt seit zehn Jahren.
Das ist unglaublich. Wie kann das sein!
Ich möchte deshalb mit Ihnen auf diese zehn Jahre zurückblicken, die auch eine Zeit waren, in der sich unser Blick auf die Natur, auf das Klima stark verändert hat.
Gerne.
Sagen Sie einfach, wann wir loslegen können.
Es hat schon begonnen.
Warum lachen Sie?
Ich musste gerade an Jeanne Moreau denken. Vor vielen Jahren bin ich nach Paris gefahren, um sie zu interviewen, die große, französische Schauspielerin …
… die wir nach ihrem Tod 2017 auch in unserer Kolumne gewürdigt haben.
Die Begegnung mit ihr ist mir gerade aus zwei Gründen eingefallen. Einmal weil Sie angefangen haben, die Screenshot-Selfies von uns beiden zu machen. Ich habe meinen Laptop extra etwas hochgehoben, das habe ich von ihr gelernt.
Wie das?
Nach dem Interview fragte sie mich, wo denn der Fotograf sei. Ich wollte ihr erst wahrheitsgemäß antworten, dass gar kein Fotograf komme. Aber dann dachte ich, das kann ich nicht bringen. Sie hat sich so schön gemacht, sie ist bestimmt vorher beim Friseur gewesen, weil sie dachte, es gebe auch ein Fotoshooting. Also habe ich gesagt: „Ich mache immer beides.“ Und habe angefangen, sie mit dem Handy zu fotografieren, bis sie mich stoppte: „So macht man kein Porträt, Sie müssen die Kamera hochhalten, das ist der Trick! Sehen Sie. Jetzt können Sie auch alle Ihre Freunde fotografieren.“
Und was war der andere Grund, warum Sie an sie gedacht haben?
Als der Künstler Cerith Wyn Evans mitbekommen hatte, dass ich Jeanne Moreau treffe, hat er mich gebeten, sie dazu zu bringen, mir den Satz „Le film est déjà commencé?“ auf Band zu sprechen.
Warum ausgerechnet diese Frage: „Hat der Film schon begonnen?“
Das ist der Titel eines Films von Maurice Lemaître aus dem Jahr 1951, der einen großen Einfluss auf die Nouvelle Vague hatte. Jeanne Moreau hat wirklich mitgemacht, und aus meiner Aufnahme hat Cerith Wyn Evans später ein eigenes Kunstwerk geschaffen. Der Film hatte also schon begonnen, so wie unser Gespräch bereits begonnen hat.
Und genau das ist die Art und Weise, wie wir unsere Kolumnengespräche seit zehn Jahren führen. Wenn Sie auf diese Zeit zurückschauen – was hat sich seitdem verändert?
Vor allem ist das Thema der Nachhaltigkeit in der Kunstwelt wichtiger und wichtiger geworden. Für mich hat die Beschäftigung damit bereits während meines Studiums begonnen. Ich habe bei Hans Christoph Binswanger in St. Gallen Ökonomie studiert, er hatte dort ein Forschungszentrum zu dieser Frage gegründet: Wie man Ökologie und Ökonomie zusammenbringt. Davon beeinflusst habe ich früh versucht, seine Fragen bei der Konzeption meiner Ausstellungen mitzudenken, beispielsweise bei „Do It!“, der Gruppenausstellung, die seit 30 Jahren läuft und stets mit lokalen Kunstschaffenden ergänzt wird, die wiederum mit lokalen Materialien arbeiten. Aber es gibt eine Veränderung der letzten zehn Jahre, die noch größer ist: Das Zeitalter der Ausstellungen, so wie wir sie kennen, ist vorbei. Ausstellungen sind nicht mehr das Hauptinteresse vieler Künstlerinnen und Künstler.
Wie meinen Sie das?
Nehmen Sie Katharina Grosse, die außerhalb von Berlin ihr eigenes Forschungsinstitut aufbaut. Oder schauen Sie sich an, dass Precious Okoyomon lieber an Gärten als an Ausstellungen arbeitet. Oder, um genau zu sein: Ausstellungen in Gärten verwandelt und dann möchte, dass diese jahrelang dauern. Andere Künstlerinnen und Künstler entwickeln gleich ganze Landwirtschaftsprojekte. Als Kurator muss man das mitdenken, sich also mit Formaten beschäftigen, die über die klassische Ausstellung hinausgehen.
Ist das Prinzip Ausstellung tot?
Nein, das glaube ich nicht, aber es muss neu erfunden werden. Es muss nachhaltiger werden und darf nicht mehr nur Teil einer Eventkultur sein. Slow Programming ist eine Möglichkeit, eine andere ist, langfristiger an Ausstellungen zu arbeiten. Unser Projekt „Back to Earth“ hat vor fast zehn Jahren begonnen. Kurz nachdem wir beide uns kennenlernten, haben wir in der Serpentine in London 2014 mit dem Künstler und Umweltaktivisten Gustav Metzger einen unserer Interview-Marathons veranstaltet. Dieser hat wiederum dazu geführt, dass wir in der Serpentine eine Ökologie-Abteilung gegründet und die Stelle eines Ökologie-Kurators eingerichtet haben. Unter dem Namen „Back to Earth“ haben dann 140 Künstlerinnen und Künstler von Marina Abramović, Olafur Eliasson über Jane Fonda, Judy Chicago bis Etel Adnan Ideen zu Umweltfragen entwickelt – von Rezepten über Zeichnungen bis zu ganzen Gartenkonzepten, die wir in einem Buch veröffentlicht haben: „Remember Nature“. In diesem Herbst wird es eine neue Auflage von „Back to Earth“ geben, auch wieder mit einem Interview-Marathon, diesmal machen wir ihn gemeinsam mit Brian Eno.
Eno hat kontinuierlich Musikgeschichte geschrieben, als Mitgründer von Roxy Music, als Miterfinder des Ambient-Genres, als Co-Autor von David Bowies Song „Heroes“ und langjähriger Produzent von U2.
Genau. An diesem Interview-Marathon werden Sie auch sehen, was sich in den vergangenen Jahren verändert hat. Aus heutiger Sicht ergibt es keinen Sinn mehr, für den Marathon Dutzende von Gästen aus der ganzen Welt einzufliegen. Wir werden also einerseits viele lokale Teilnehmer einladen, nicht nur aus London, sondern aus der Region, aus Europa. Und andererseits werden wir viele internationale Gäste per Video live zuschalten. Wobei Brian Eno etwas wichtig ist: Wenn man sich etwa per Zoom zusammenschaltet, so wie wir beide jetzt, sieht man ja nur flache Gesichter. Wir sind deshalb gerade dabei, eine Lösung zu finden, mit der die Teilnehmer fast wie bei einem Hologramm auf der Bühne erlebbar sein werden.
Die Video-Apps sind definitiv eine bedeutende Veränderung der vergangenen Jahre.
Die Ideen dafür gab es schon vor den Lockdowns, aber natürlich wurde diese Entwicklung durch die Pandemie enorm beschleunigt. Und da wir von Veränderungen sprechen: Es geht nicht nur um die Art, wie wir Ausstellungen konzipieren, es geht auch um die Art, wie wir reisen. Wobei es nicht darum geht, mit dem Reisen aufzuhören. Es bleibt aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe der Kunst, gerade in Zeiten des sich ausbreitenden Nationalismus, grenzüberschreitende Dialoge zu ermöglichen. Es dürfen nicht nur die Kryptowährungen sein, die Grenzen überschreiten, auch Kunst muss transnational bleiben.