Zügellose Aktionen, bei denen jede Menge Blut floss und viel nackte Haut zu sehen war, machten Hermann Nitsch berühmt und waren immer auch für einen medialen Skandal gut. Am Ostersonntag ist er im Alter von 83 Jahren gestorben. Sebastian C. Strenger erinnert an den kompromisslosen Außenseiter – unter anderem mit einem Auszug aus ihren zahlreichen Gesprächen
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21.04.2022
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 8/22
In Österreich war der Name Nitsch bereits seit den bedeutenden Tagen des Wiener Aktionismus in den frühen Sechzigerjahren in aller Munde. Weltweit erhielt der Künstler dann Ende des Jahrzehnts durch internationale Festivals wie „Destruction in Art“ Aufmerksamkeit. Er zelebrierte regelmäßig „Orgien-Mysterien-Theater“ – im Sommer 1998 auf seinem Anwesen Schloss Prinzendorf in Niederösterreich sogar über sechs Tage hinweg. Bei der 150. Ausgabe des „Schauspiels“ im australischen Tasmanien waren die tausend Besucherkarten – trotz anhaltender Proteste gegen die Aktion – binnen drei Stunden ausverkauft. Aus Malaktionen entstanden seine berühmten Schütt-, mitunter auch Wachsbilder. Aufgrund seiner großen Liebe zur Musik flankierte er sein bildnerisches Werk Zeit seines Lebens mit eigenen Kompositionen. Kritische Stimmen zu seiner künstlerischen Position gab es immer wieder. Zuletzt 2021, als Nitsch bei den Bayreuther Festspielen eine konzertante Version der „Walküre“ szenisch begleitete.
Erst vor wenigen Monaten hatte die Pace Gallery mit neun internationalen Standorten und einer Zentrale in New York die Hauptvertretung des Künstlers übernommen, die seine aktuellen Arbeiten auch am Rande der Venedig-Biennale präsentiert. Eine dort geplante Aktion muss nun ohne den Meister auskommen.
Sie machen Kunst. Was ist dabei Ihr größtes Glück?
Wenn Einheimische und Menschen aus der ganzen Welt kommen, um meinen Aktionen zu folgen und meine Kunst zu sehen. Das ist ein großer Triumph für mich, weil man mir viel angetan hat, wie man ja weiß …
Sie sprechen von Ihrer Mehrfach-Verurteilung wegen der Kunst …
Ja. Ich habe da eine halbjährige Gerichtsstrafe bekommen und musste wegen meiner Arbeit auch das Land verlassen. Mit der ganzen Politik, die noch dazu von der Presse gesteuert und falsch interpretiert wird, möchte ich nichts zu tun haben. Es gibt pseudosoziale Regeln in der Politik. Und die sind unbrauchbar.
Wie steht es mit Religion?
Meine Religion ist der Kosmos. Aber nahezu alle uns bekannten Religionen sind aus unserem kollektiven Unbewussten entstanden. Als Opium fürs Volk.
Diese Bezeichnung stammt von Karl Marx …
… aus seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“. Und er hat recht. Aber mich haben Schopenhauer und später Nietzsche immer schon mehr interessiert. Aber auch mit asiatischen Philosophen und christlicher Mystik habe ich mich sehr stark auseinandergesetzt.
Begleitet der öffentliche Aufschrei ihre Arbeiten immer noch?
Wenn dies so wäre, wäre dies auch der Beweis meiner fortwährenden Jugend; aber die Menschen haben sich doch an mein Werk gewöhnt. Warum sollten sie auch aufschreien?
Vielleicht wegen der Verwendung von Blut und Tierkadavern?
Ich verwende nur Tiere, die von der Gesellschaft für den Nahrungsmittelkonsum geschlachtet wurden. Damit tue ich den Tieren doch kein Leid an. Ich bin doch auch Tierschützer!
Was bedeuten Ihnen die rituellen Handlungen, die sie mit den Kadavern vollziehen?
Wir leben in einer Kultur von Raubtieren. Es ist gut, sich das bewusst zu machen. Leider leben wir aber auch in einer Gesellschaft, in der Rituale der Hygiene und Reinlichkeit wichtig sind. Man könnte aber auch beim Christengott und der Wandlung vom Brot zum Fleisch während der Messe anknüpfen. Überhaupt sind die Mythen der Welt voll von Opferhandlungen.
Ihr Hauptwerk, das Orgien-Mysterien-Theater …
… ist durchsetzt davon, ja. Denn es geht um Katharsis.
Warum?
Ich möchte mit meiner Arbeit, wenn man so will, aus der ekeligen Normalität ausbrechen. Dafür nutze ich mein lexikalisches Wissen und meinen Kunsttrieb.
Und das Ziel?
Mit meiner Kunst möchte ich die höchste und intensivste Erfassung des Seins fördern.
Wo wird das enden?
Hoffentlich wird es zu Erkenntnis führen. Ich wünsche mir noch viele Jahre, in denen ich das erleben darf, was mir wichtig ist. Aber die Realität ist auch, dass jeder zusätzliche Tag, den ich erleben darf, ein Geschenk ist. Und so werde ich mich wohl bis zuletzt dieser schöpferischen Tätigkeit hingeben.