Documenta 15

Brücken bauen

Gemeinsam mit dem Architekturkollektiv Recetas Urbanas aus Sevilla haben Kasseler Grundschulkinder ein begehbares Kunstwerk erschaffen, das Länder und Generationen verbindet

Von Clara Zimmermann
14.06.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 200

Den Bootsverleih Ahoi kennt in Kassel jedes Kind. Das Wassersportzentrum, das weit ab von der lauten Straße liegt und von großen Bäumen umsäumt ist, ist seit Langem ein beliebter Treffpunkt in der Nachbarschaft. Seit 1950 legen von dem verwunschenen Gelände am Ostufer der Fulda die Boote ab. Wer mit den Schwanenbooten „Henner“ und „Gustchen“ einen Ausflug auf dem Fluss machen möchte, ist hier an der richtigen Adresse. Außerdem gibt es Tretboote, Kajaks und Kanadier, die in einer kleinen Hütte nahe dem Wasser auf ihren Einsatz warten.

Die Sonne scheint, als die ersten Schülerinnen und Schüler der Unterneustädter Grundschule zu Fuß den Bootsverleih erreichen. Rektorin Kerstin Schwabe-Matic zieht einen Bollerwagen, vollbepackt mit Proviant und bunten Malutensilien. Wenig später trifft die zweite Gruppe ein, sie kommt aus einer anderen Richtung, denn die Schule ist auf zwei Standorte aufgeteilt. Die Kinder, alle zwischen acht und elf Jahren, sind heute die Hauptpersonen, sie bauen an diesem Vormittag eine Brücke für die Documenta. Das Projekt startete unter dem Namen „Jumping in Hanoi“. Mit Hanoi ist eigentlich Ahoi gemeint, doch während seines ersten Besuchs in Kassel wurde der versehentliche Buchstabendreher von Santiago „Santi“ Cirugeda, Gründer des in Sevilla ansässigen Architekturkollektivs Recetas Urbanas, kurzerhand zum Titel des Projekts. „Hanoi klingt auch gleich viel sonniger“, findet Ania Jaca, die das spanische Kollektiv in Kassel tatkräftig unterstützt. Sie hat gerade ihren Bachelor in Industrial Design an der Folkwang Universität in Essen abgeschlossen. Wie kann man über ein Haus springen? Diese lustig surreale Frage hat das Kollektiv den Kindern zu Beginn gestellt. Als Antwort führt die Brücke nun nicht über die Fulda, sondern über das Bootshaus.

Recetas Urbanas Documenta Fifteen
Die junge Industriedesignerin Ania Jaca leitet den Workshop. Die Mädchen und Jungs haben schnell raus, wie die Bohrmaschine funktioniert. © Fiona Körner

Ein Hauch von Documenta umweht den kleinen Bootsverleih bereits seit 1982, denn wenn man bis zum Wasser läuft und hinüber zum anderen Ufer blickt, thront dort eine monumentale Spitzhacke von Claes Oldenburg. Die Stahlplastik, die an den Wiederaufbau Kassels nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert, war der Beitrag des schwedisch-amerikanischen Pop-Art-Künstlers zur Documenta 7. Diesen Sommer ist der Bootsverleih Ahoi auf der östlichen Flussseite nun einer der vielen Standorte der Documenta Fifteen. Das kollaborative Brückenprojekt entstand auf Einladung der OFF-Biennale Budapest, das Konzept für den kunterbunten Spielplatz entwickelte Recetas Urbanas gemeinsam mit den Klassen eins bis vier der Unterneustädter Grundschule und allen, die sonst noch Lust haben, zu sägen, zu hämmern oder zu bohren. So ist der Ort bereits vor der Eröffnung zu einem lebendigen Teil von Ruangrupas „Ekosistem“ mutiert. Ruangrupa ist ein Kollektiv aus Indonesien, das in diesem Jahr die künstlerische Leitung der großen Ausstellung für zeitgenössische Kunst verantwortet, und mit Ekosistem bezeichnen sie kollaborative Netzwerkstrukturen, durch die Wissen, Ressourcen und Ideen geteilt werden. Dabei setzen sie auf Gemeinnützigkeit sowie Partizipation und Inklusion. „Zutritt erlaubt für alle außenstehenden Personen“, heißt es auch auf dem Schild, das vor den hölzernen Brückenpfeilern steht.

„Lumbung“, das indonesische Wort für Reisscheune, bezeichnet eine Möglichkeit des Teilens und Lernens, denn in der Scheune wird die überschüssige Ernte gelagert und gemeinschaftlich aufgeteilt. Lumbung steht ebenso für die Lebens- und Arbeitspraxis von Ruangrupa. Mit diesem Konzept können auch schon die Neunjährigen etwas anfangen und hören brav zu, als Ania das Programm für den Vormittag erklärt. Ausgestattet mit knallgelber Weste, Handschuhen und einem Helm, der auf den kleinen Kinderköpfen schwankt, werden die Mädchen und Jungs heute zwei Stunden lang an ihrer Brücke bauen. Aufgeteilt in drei Gruppen, durchlaufen sie nacheinander die verschiedenen Stationen: planen, bohren, Pause machen. Der Entwurf hängt auf bunten Blättern an der Planbude. Die „Alles-Brücke“ vereint alles, was sich die Kinder gewünscht haben. Ania, die von Anfang an mit dabei war, erzählt, dass die Kinder nicht geglaubt haben, dass ihre Brücke wirklich gebaut wird. Erst als sie gesehen haben, dass der Name, den sie ausgesucht haben, bleibt, haben sie auch angefangen, an die „Alles-Brücke“ zu glauben. „Wir sind jetzt Künstler“, erklären zwei Mädchen aus der dritten Klasse stolz und zeigen dabei auf den ersten Teil der Holzbrücke, der schon in Richtung Himmel ragt. Er ist der sportliche Abschnitt, der mit der Treppe hinauf auf das Dach führen wird. Auf der Aussichtsplattform – dem künstlerischen Abschnitt – soll gemalt und gebastelt werden. Mit der Rutsche geht es auf der anderen Seite wieder hinunter. Dort wird es außerdem eine barrierefreie Rampe geben.

Brücke Entwürfe Documenta Fifteen
Die bunten Entwürfe, die die Kinder gemalt haben, zeigen die drei Teile der Projekts. © Finoa Körner

Carlos Vázquez Gardón gehört auch zum Team von Recetas Urbanas. Er zeigt seiner Gruppe, wie man Löcher bohrt und anschließend Schrauben einsetzt. Dass Carlos nur Spanisch spricht, ist dabei kein Problem. Der Fuß der Brücke besteht aus Europaletten und alten Schultischen. Sie werden heute miteinander verschraubt. Aus gespendeten Kirchenbänken soll das Geländer der Treppe gebaut werden. Fast alle Materialien sind recycelt.

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