Die Vulkaninsel Ischia im Golf von Neapel war in den Fünfzigerjahren ein Refugium für deutsche Maler. Nach dem Schrecken des Krieges genossen sie hier ein freies Leben – als Künstler und als Liebende
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01.07.2022
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WELTKUNST Nr. 132
Als der junge amerikanische Schriftsteller Truman Capote 1949 die Fähre von Neapel nach Ischia nahm, kam ihm die Hafenbucht mit ihren Häusern in den „hellen, abblätternden Eiscreme-Farben“ schon auf den ersten Blick seltsam vertraut vor. Im Gedränge des Aussteigens fiel seine Uhr herunter und ging zu Bruch. Die Symbolik dieses Moments empfand er überdeutlich: „Es war klar, dass Ischia kein Ort der gehetzten Stunden würde, das sind Inseln nie.“
Ischia ist die größte der vulkanischen Inseln im Golf von Neapel. Der bewaldete Berg Epomeo überragt die Landschaft mit ihren schroffen, abfallenden Felsen. Auf malerischen Terrassen gedeihen Weinstöcke, Zitronen, Dattelpalmen, Feigen und Kakteen, zwischen denen Zikaden zirpen und Eidechsen umherhuschen. Es ist, als habe die Landschaft selbst zu Pinsel und Palette gegriffen: Auf vorgelagerten Felsen erhebt sich das imposante Castello Aragonese, in dem einst die Renaissancedichterin und Michelangelo-Vertraute Vittoria Colonna wohnte. Rosa und weiß getünchte Häuser mit flachen Dächern, Fischerboote und Ziegenhirten wie aus einer Fabel von Aesop lassen dem empfindsamen Menschen das Herz aufgehen – und sind für uns heute doch zum Klischee geworden. Schon im alten Rom waren die Heilquellen von Ischia bekannt. Auch im 19. Jahrhundert besuchten Künstler die Insel – Arnold Böcklin fand hier sein berühmtestes Motiv, die „Toteninsel“ – , aber in der Epoche um 1950 war Ischia noch nicht vom Tourismus überrollt, rustikaler und verträumter als das benachbarte Capri.
Um diese Zeit zog es den Regisseur Luchino Visconti nach Ischia, die Schriftsteller W. H. Auden, Ingeborg Bachmann, den Komponisten Hans Werner Henze, die Fotografen Herbert List und Regina Relang. Später wurde Ischia regelrecht zur Promi-Insel, Liz Taylor, Richard Burton und Maria Callas mieteten sich hier ein. Auch Marion Gräfin Dönhoff, deren Schwester hier ein Haus hatte, kam regelmäßig.
Truman Capote genoss seine Monate auf Ischia mit seinem Freund und Liebhaber. Auf dem Dach ihrer Pension sollen sie Partys mit den hübschesten Fischern der Stadt gefeiert haben – Freiheiten, wie sie an vielen anderen Orten Europas und Amerikas damals undenkbar waren.
Mit ihrem ganz eigenen, lichtdurchfluteten Charme und ihrem warmen Klima war Ischia in den Fünfzigerjahren besonders einer Gruppe von deutschen Künstlern ans Herz gewachsen. Die zusammengewürfelten Maler – alle mindestens eine Generation älter als Capote – siedelten sich um diese Zeit hier an, sei es ganz oder nur für bestimmte Zeiten des Jahres. Eduard Bargheer aus Hamburg-Finkenwerder und Werner Gilles aus Rheydt hatten hier ihren Wohnsitz, auch Hans Purrmann aus Speyer, Max Peiffer Watenphul aus Weferlingen im heutigen Sachsen-Anhalt und Hermann Poll aus Bielefeld kamen immer wieder.
Sie alle hatten zwei Weltkriege erlebt, manche den ersten noch als Teenager, und für sie alle hatte das Dritte Reich mit seinem diffamierenden Stempel der „Entarteten Kunst“ eine Unterbrechung ihres Schaffens bedeutet. Nach Ischia kamen sie zum Malen – und sie trafen sich regelmäßig, in unterschiedlicher Zusammensetzung, zum Abendessen. Was würden wir heute dafür geben, eine Zeitreise zu machen, einen Stuhl heranzuziehen und an ihrem Tisch in einer der Hafenkneipen den Gesprächen zu lauschen: Erinnerungen an ihre Lehrer wie Paul Klee und Henri Matisse und Gedanken zum zeitgenössischen Kunstgeschehen, das die Welt damals in zwei Lager teilte, das figürliche und das abstrakte.
Ischia war für sie alle große künstlerische Inspiration. Fast ist es so, als ob die geologischen und architektonischen Strukturen der Landschaft selbst ihrer Malerei entgegenkamen, sowohl Purrmanns Kolorismus als auch den grafischen Mustern von Bargheer und den abstrahierten insularen Formen auf den Bildern von Gilles.
Der älteste von ihnen war der Pfälzer Hans Purrmann, geboren 1880, dessen Frau, ebenfalls Malerin, wenige Jahre zuvor gestorben war. Wie für viele andere war für Purrmann Italien zur Nazizeit ein Zufluchtsort geworden. Er hatte seit 1935 in Florenz ehrenamtlich das deutsche Künstlerhaus in der Villa Romana geleitet. Dort war es für Gegner des Naziregimes weniger gefährlich als in Deutschland. Trotzdem: Als Hitler für ein Treffen mit Mussolini nach Florenz reiste, wurde Purrmann für einige Tage in Schutzhaft genommen. Sein Künstlerfreund Rudolf Levy (auch er war ein großer Fan von Ischia) wurde 1944 deportiert und ermordet. Purrmann erlebte, wie Bargheer, die Zerstörungen und das Ende des Krieges in Florenz.
Das alles lag nur wenige Jahre zurück, als Purrmann in einer Pension in Porto d’Ischia zwei Zimmer mit Blick auf den Hafen mietete, die seinen Bedürfnissen so sehr entgegenkamen, dass er immer wieder hierher zurückkehrte. Der Flur zwischen den beiden Zimmern, gerade breit genug für seine Staffelei, hatte ein Fenster zum Hafen mit dem kleinen Leuchtturm, den Segelschiffen, Kuttern und Ruderbooten, geradezu ein „vorkomponiertes Bild“, wie der Kunsthistoriker Erhard Göpel schreibt, der Purrmann dort vor mehr als einem halben Jahrhundert besuchte. Er begleitete den Künstler bei seinen morgendlichen Ausflügen in die Landschaft, wo Purrmann unter Olivenbäumen die Staffelei aufstellte und sein Dreibein in die Erde rammte, nach der Siesta auch bei seinen Stadtrundgängen, bekleidet mit hellem Leinenanzug. An den Nachmittagen besuchte er gern die örtlichen Antiquitätengeschäfte. Als Sammler schätzte er persische Keramik, alte Textilien und anderes Kunsthandwerk, das ab und zu auf seinen Stillleben auftaucht. Purrmann besaß im Lauf seiner Karriere auch viel Kunst von Zeitgenossen aus seiner Zeit in Paris Anfang des 20. Jahrhunderts. Davon nahmen ihm die französischen Behörden aber wichtige Stücke ab, zum Beispiel das berühmte Stillleben mit Goldfischglas von Matisse, das heute dem Museum of Modern Art in New York gehört.
Von den Teilnehmern der abendlichen Tischgesellschaften war keiner so sehr auf der Insel zu Hause wie der gesellige, temperamentvolle Eduard Bargheer. Das Städtchen Forio hatte ihn sogar zum Ehrenbürger ernannt: Während seiner Dienstzeit als Übersetzer an einem U-Boot-Stützpunkt im ligurischen La Spezia – er verfasste sogar ein deutsch-italienisches Spezialwörterbuch für U-Boot-Ausdrücke – hatte er, so heißt es, bei Kriegsende Soldaten, die von der Insel stammten, bei der Flucht geholfen. Während Purrmann seine Aufenthalte in einer Pension zubrachte, lebte Bargheer erst im Torrione, einem mittelalterlichen Stadtturm, dann in einem ehemaligen Klostergebäude in Forio, und Ende der Fünfzigerjahre baute er sein erstes Haus. Werner Gilles dagegen hatte ein gewölbtes Atelier, einen historischen Lagerraum, der sich wie eine Höhle am Berghang befand – über eine Leiter kam er auf einen Weg, der direkt an den Strand führte.