East London Group

Der spröde Charme des anderen London

Wir begeben uns auf eine Kunstreise ins Londoner East End, das typisch ist für das „andere“ London – und zu seinen Künstlerinnen und Künstlern: der East London Group

Von Dirk Bennett
12.09.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 13/22

Schön ist sie hier nicht, diese eigenwillige Stadt an der Themse. Grau und grün und braun. Voller Parks, industrieller Einöden und historischer Monumente. Über die Jahrzehnte, Jahrhunderte irgendwie zusammengewuchert. Gasbehälter aus der Zeit nach 1900, U-Bahn-Brücken, viktorianische Warenhäuser, Bausünden der Siebzigerjahre, eine stillgelegte postmoderne Bankfiliale. Zusammengeschusterte Hauptstraßen voller Wettläden, Charity-Shops und Pubs, die bessere Zeiten gesehen haben. Filialen von Supermarktketten, Pound Shops, Schnellimbisse („Greasy Spoons“), ein Teppichlager (wer richtet so etwas ein? Und vor allem: Wer kauft so etwas?).

Das ist das Londoner East End: Bow Bells und Columbia Market, Stepney, Wapping und Spitalfields, Bethnal Green, Poplar. Eindeutig West-Ham-Uniteds-Revier – nicht Tottenham Hotspurs, nicht Arsenal oder gar Chelsea. Das sind Stadtteile, die nie so richtig „in“ (oder „hip“ oder „trendy“) waren. Hier gibt es billigen Wohnraum, daher ist die Gegend ein Magnet für Studenten. Und für die nicht ganz so Reichen, Neuankömmlinge, Immigranten. Bunt, lebendig, gemischt ist es hier– um ein modernes Schlagwort zu gebrauchen: divers.

Das East End war und ist somit auch irgendwie typisch für das „andere“ London. Abseits der Bankenviertel und Touristenattraktionen. Abseits von West End, Kensington und Sloane Square. Es hat seinen ganz eigenen, spröden Charme, der sich in einem zusammengewürfelten Straßenbild ausdrückt, auch in bestimmten Gerüchen und Geräuschkulissen. Und in einem speziellen Akzent – unverkennbar (und für den Neuankömmling manchmal schwer verständlich) mit seinen verschluckten Ts und Hs und rhetorischen Fragen; mit den Diphtongen, die aus jedem A ein lang gezogenes A-i machen; mit der auf- und abschwellenden Satzmelodie, die selbst Konversationen über das Wetter unfreiwillig Theatralik verleiht. Klischees? Vielleicht ein wenig , aber weiter …

John Albert Cooper Hokey Pokey
John Albert Cooper war der Gründer der Gruppe, die später als East London Group bekannt werden sollte. Sein Ölgemälde „Hokey Pokey“ schuf er 1914. © Bradford Museums and Galleries

Im Prinzip hat sich wenig gewandelt, seit Eric Arthur Blair (aka George Orwell) seine Erlebnisse von dort in Down and Out in Paris and London niedergeschrieben hat, oder Egon Erwin Kisch in seinen Reportagen (man fragt sich allerdings, wie viel der rasende Reporter wirklich vom East End verstanden hat). In den Dreißigern lieferten sich hier die Sozialisten und die British Union of Fascists unter Oswald Mosley Straßenschlachten; heute finden sich die Aufkleber von Black Lives Matter, Flüchtlingsorganisationen und der UK Independence Party UKIP.

Da gibt es nichts, was auf größere Ambitionen schließen ließe – möchte man auf den ersten Blick meinen. Und doch – auch das ist typisch für London: Allüberall finden sich doch robuste Triebe kultureller Aktivitäten. Vielleicht ist das ja gerade der richtige Humus für privates Engagement – für Galerien, Bürgerinitiativen, Abendschulen, Kooperativen; für Abstinenzler, Heilsarmisten, Esoteriker, Sozialisten, Muslimbrüder und Heilige der Letzten Tage. Hier gleich noch ein Klischee: Der englische Staat greift weniger ins Alltagsleben ein als beispielsweise in Deutschland, sorgt sich weniger um private Belange.

Niemand hat diese spezielle Atmosphäre besser eingefangen als die bis vor wenigen Jahren weitestgehend vergessenen Künstler der „East London Group“. Gegründet von John Albert Cooper (1894 – 1943), hat die Gruppe ihren Ursprung in einer jener ortstypischen Privatinitiativen: und zwar dem Bow and Bromley Evening Institute, einer Abendschule für Kunst in der Umgebung von Bethnal Green und Mile End. Cooper – selbst ein talentierter Künstler, ausgebildet an der bekannten Slade School of Art –, muss ein inspirierender Charakter gewesen sein, der kraft seiner Persönlichkeit, seines Engagements und Talents schnell eine Gruppe von Gleichgesinnten um sich scharte. Phyllis Bray, Lilian Leahy, Cecil Osborne, William Coldstream, Archibald Hattemore – und so weiter und sofort.

Walter Sickert Pimlico
Die Tate Britain in London zeigt noch bis zum 18. September Werke von Walter Sickert - darunter auch „Pimlico“ (um 1937). © Tate Britain, London

Die Webseite der East London Group listet derzeit 33 Namen. Einer ihrer schillerndsten Vertreter war der Soldat, Fensterputzer, Boxer, Künstler, politische Aktivist und spätere Bürgermeister von Bethnal Green, Albert Turpin. Interessanterweise waren durchaus nicht alle Londoner (oder gar Cockneys) von Geburt – aber vereint in der Verbundenheit zur neuen Heimat. Geholfen hat dabei sicherlich Coopers Netzwerk von Bekannten in der zeitgenössischen Kulturszene, die er für häufige Gastvorträge gewinnen konnte. Zum Beispiel Walter Sickert – übrigens selbst Mitglied einer anderen maßgeblichen zeitgenössischen Künstlergruppe in Nordlondon: der Camden Town Group.

Ab Ende der 1920er-Jahre fanden erste Ausstellungen statt, die sofort Aufsehen erregten – 1928 beispielsweise in der Whitechapel Art Gallery, die bereits damals eine der führenden Galerien der Stadt war und einen halbstündigen Fußmarsch von Bethnal Green entfernt am anderen – südlichen – Ende der Brick Lane gelegen ist. Artikel zu dieser Werkschau erschienen in der Daily Mail, dem New Statesman, der Sunday Times. Einzel- und Gruppenaustellungen folgten in der Tate Gallery und in der Lefevre Gallery im West End. Die Gruppenmitglieder Elwin Hawthorne und Walter Steggles nahmen 1936 an der Biennale von Venedig teil.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand die Gruppe aus dem öffentlichen Bewusstsein. Die prekäre Situation im England der Nachkriegszeit mag damit zu tun gehabt haben; eine Rolle spielten aber sicherlich auch veränderte Moden – im Aufsteigen begriffen waren nun beispielsweise die London School (Frank Auerbach, Francis Bacon, Lucian Freud) und der Abstrakte Expressionismus, der aus den Staaten herüberschwappte. Der frühe Tod des Gruppengründers Cooper im Jahr 1943 bewirkte ein Übriges. Manche Protagonisten der East London Group blieben zwar weiter aktiv, jedoch ohne für ihre Arbeiten noch die Anerkennung der vorangegangen Jahre zu bekommen.

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