Die Münchner Olympialandschaft von 1972 ist noch immer ein Glücksfall. Sie passt gut in eine aktuelle Gesellschaft, die mehr Demokratie, Teilhabe und Wiederverwertung wagen möchte. Doch heute ist der 5. September – jener Gedenktag, an dem sich das schockhafte Olympia-Attentat zum 50. Mal jährt
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05.09.2022
Frei Otto (1925-2015) war der Papst des Leichtbaus. Er hatte schon eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art bekommen, ehe er 1972 zum Vater des Münchner Olympiadachs wurde. Otto trat für ein humanes Bauen nach natürlichen Vorbildern ein. Seine Studierenden am Stuttgarter Institut für Leichte Tragwerke lernten von den biologischen Bewegungen und Strukturen bei Gräsern, Bäumen, Libellenflügeln und Insekten. Am Ende sorgte ein komplexes mathematisches Modell namens „Finite Elemente“ dafür, dass 1972 eine geniale Zeltkonstruktion aus Seilen, Stahltrossen, 1,5 Millionen Schrauben und 8300 Plexiglasplatten gelang. Spinnennetze, Kieselalgen und Seifenblasen dienten als Vorbilder. Stützstrümpfe halfen beim Modellbau! Zahlreiche Planer und Statiker rund um Otto und den Chefarchitekten Günther Behnisch tüftelten in einer kolossalen Gemeinschaftsleistung jahrelang daran. Der Ulmer Designer Otl Aicher rundete das visuelle Erscheinungsbild der Spiele durch seine bunten Plakate und Piktogramme ab. In den Herzen der Münchner wohnt das Ergebnis dieser Gestaltungsmaßnahmen seit langem unter dem Namen „demokratische Architekturlandschaft“. Das einzigartige Olympiadach, das Stadien und Hallen zu einer vielgliedrigen Großform verbindet, wurde damit zu Münchens fraglos wichtigstem Beitrag der letzten 150 Jahre Architekturgeschichte.
Und soeben hat dieses Areal unter dem Fernsehturm ein sagenhaftes Revival erlebt. Elf Tage lang fanden Mitte August die sogenannten European Championships statt – Meisterschaften in neun Sportarten. Im 50 Jahre alten Olympiapark des Landschaftsarchitekten Günther Grzimek wurden die Leichtathletik, verschiedene Triathlons und die BMX-Rad-Wettbewerbe ausgetragen. Bei Kaiserwetter erlebten zehntausende Livegäste und Millionen TV-Zuschauer, wie elegant selbst massive Baustrukturen in Geländemulden verschwinden können, wenn sie masselos unters Grün hineingeplant werden. 6 Millionen Kubikmeter Erde bewegte man einst dafür, 370.000 Kubikmeter Beton wurden verbaut. Das Dach ist 75.000 Quadratmeter groß und über 300.000 Tonnen schwer. Allein, das alles sieht und spürt man kaum. Die Besucher der 130 Millionen Euro teuren Großveranstaltung (drei Viertel öffentliche Zuschüsse, ein Viertel Sponsorengelder) genossen dort jetzt 2022 im Stadion, am See, und am Olympiaberg die Lauf-, Rad- und Schwimm-Darbietungen – ohne Konsumzwang und oft völlig kostenlos. Der Olympiapark München Gesellschaft (OMG) gelang es damit, ein gerade ziemlich rares Gegengift zur aktuell wachsenden Aufspaltung der Bürger in Arm und Reich zu mischen und zu verabreichen. Ein Konzept für Jedefrau und Jedermann, das überdies beweist, was Nachhaltigkeit im Bausektor bedeutet: Fast alle Stadien von 1972 wurden erneut genutzt. Es war der Coup dieses Sommers: München „kaperte“ gewissermaßen seine eigene tolle alte Architektur, um dem Sport in ökologisch und gesellschaftspolitisch herausfordernden Zeiten eine gemeinnützige Zukunft zu versprechen. Dafür wird es nun zurecht gefeiert.
Wenn es da nicht diesen Schatten gäbe. Am heutigen Montag jähren sich die Geiselnahme durch das Kommando „Schwarzer September“ zur Freipressung von palästinensischen Gefangenen und deutschen RAF-Terroristen sowie die Ermordung von elf israelischen Sportlern und einem deutschen Polizisten zum 50. Mal. Das Münchner Olympische Dorf wird für immer auch mit diesen Bildern verbunden sein, welche die Sommerolympiade 1972 auf so grausame Weise unterbrachen. Die Sache war, ist und bleibt komplex. Die Handelnden sind die Stadt München, damals wie heute Veranstalter der Sportfeste, und Polizei, Geheimdienste, bayerische sowie deutsche Ministerien als Vertreter des staatlichen Gewaltmonopol, als Verhandler, als Verantwortliche.
So wirken jetzt zwei Ereignisse – die European Championships 2022 im Olympiapark im August und der Streit um die Modalitäten einer Gedenkfeier zwei Wochen später – wie eine false balance. Es fühlt sich verkehrt an, die gelungene Gegenwart und die schreckliche Vergangenheit gegeneinander aufzuwiegen. Aber andererseits ist es auch fast unmöglich, das nicht zu tun.
Nun kommen zur Gedenkveranstaltung in München und Fürstenfeldbruck heute und morgen doch noch die Hinterbliebenen der Opfer sowie der israelische Präsident Jitzchak Herzog – lange war das höchst unwahrscheinlich. Dass hier jetzt zwischen Berliner Innenministerium, bayerischer Staatskanzlei und Anwälten – und offenbar bis zum letzten Augenblick – wegen Geld gestritten wurde, wirkt angesichts des langen Zeitraums unangemessen und banal. Dass aber die Angehörigen bis heute keine Einsicht in alle Vorgänge und Dokumente haben und eine unabhängige Aufarbeitung des vollständigen Attentat-Geschehens fehlt, ist der eigentliche Skandal. Nur völlige Transparenz und eine würdige Zeremonie zum 5. September, können die Basis für eine bessere Handhabung in der Zukunft schaffen.