Tosende Gefühle und blumige Metaphern sind nicht ihre Sache. Die Akademie lobt die klinische Präzision und die oft einfache Sprache der neuen Nobelpreisträgerin
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06.10.2022
Die Französin Annie Ernaux wird mit dem Literaturnobelpreis 2022 ausgezeichnet. Die 82-Jährige decke mit Mut und klinischer Schärfe die Wurzeln, Entfremdungen und Zwänge des persönlichen Erinnerns auf, teilte die Schwedische Akademie in Stockholm am Donnerstag zur Begründung mit. Ernaux habe etwas Bewundernswertes und Beständiges geschaffen, sagte der Vorsitzende des Literaturnobelpreiskomitees, Anders Olsson. Sie sei äußerst ehrlich und habe keine Angst, sich harten Wahrheiten zu stellen.
Die Schriftstellerin sagte der schwedischen Nachrichtenagentur TT, sie habe am Morgen gearbeitet und erst einmal nicht auf das ständige Telefonklingeln reagiert. Als ein schwedischer Journalist sie schließlich erreichte und ihr vom Nobelpreis erzählte, fragte sie zunächst: „Sind Sie sicher?“ Der Nobelpreis sei für sie eine große Ehre, aber auch eine sehr große Verantwortung, sagte Ernaux dem Sender SVT.
Ernaux stammt aus einfachen Verhältnissen und wuchs in der Normandie auf. Sie arbeitete zunächst als Lehrerin, bevor sie hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Ihr erstes Buch «Les armoires vides» erschien 1974. Anfangs schrieb Ernaux autobiografische Romane, gab diese jedoch bald zugunsten von Erinnerungsliteratur auf. Ihre mehr als 20 Bücher sind meist sehr kurz und schildern Ereignisse in ihrem Leben und ihrem Umfeld. Sie präsentieren kompromisslose Porträts sexueller Begegnungen, Abtreibung, Krankheit und den Tod ihrer Eltern. Olsson hob ihre oft „einfache, saubergekratzte Sprache“ hervor.
Ernaux selbst bezeichnete ihren Stil als „Flachschreiben“ (écriture plate) und sehr objektiven Blick auf die Ereignisse, die sie beschreibe. Dabei verzichte sie auf blumige Umschreibungen und überwältigende Gefühle. In ihrem Buch „La Place“ („Das bessere Leben“) über ihr Verhältnis zu ihrem Vater schreibt Ernaux, ein neutraler Schreibstil sei für sie ganz natürlich. „Keine lyrischen Reminiszenzen, kein triumphierendes Zurschaustellen von Ironie“.
In „L‘ événement“ („Das Ereignis“) schildert Ernaux die Folgen einer illegalen Abtreibung und in „Mémoire de fille“ („Erinnerungen eines Mädchens“) ihre Jugendzeit in den 50er Jahren. In ihrem umstrittensten Werk „Les années“ („Die Jahre“) beschreibt Ernaux sich selbst und die französische Gesellschaft vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart, wobei sie von sich in der dritten Person spricht. Das 2008 erschienene Buch erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen.
Kritiker der Literaturnobelpreisvergabe haben moniert, dass die Auszeichnung meist an Männer aus Nordamerika oder Europa gehe. Im vergangenen Jahr war der aus Tansania stammende und in England lebende Autor Abdulrazak Gurnah mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden. Er war erst die sechste in Afrika geborene Person, die den Preis bekam. Ernaux ist die 17. Frau unter 119 Geehrten. 2018 war die Preisvergabe nach Vorwürfen sexuellen Missbrauchs im Umfeld der Schwedischen Akademie verschoben worden.
Die Reihe der diesjährigen Nobelpreise war am Montag mit der Bekanntgabe des Medizin-Nobelpreisträgers eröffnet worden. Die Auszeichnung geht an den schwedischen Mediziner und Biologen Svante Pääbo, der in Leipzig forscht. Am Dienstag wurde der Physik-Nobelpreis den Quantenphysikern Alain Aspect, John F. Clauser und Anton Zeilinger zuerkannt. Am Mittwoch wurde der Amerikanerin Carolyn Bertozzi, ihrem Landsmann K. Barry Sharpless und dem Dänen Morten Meldal der Chemie-Nobelpreis zugesprochen. Am Freitag folgt die Bekanntgabe des Friedensnobelpreisträgers. Wer den Preis für Wirtschaftswissenschaften im Gedenken an Alfred Nobel erhält, wird am kommenden Montag mitgeteilt.
Jeder Nobelpreis ist mit zehn Millionen Schwedischen Kronen (920.000 Euro) dotiert. Die Verleihung erfolgt am 10. Dezember, dem Todestag des schwedischen Stifters Alfred Nobel, der 1896 starb. (dpa)