Vor hundert Jahren verliebte sich die Pariser Kunst- und Modewelt in Christian Bérard, dessen märchenhafte Malerei, Interior Designs, Bühnenbilder und Modezeichnungen jetzt in einer Ausstellung in der monegassischen Villa Paloma wiederzuentdecken sind
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06.10.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 204
Der Schriftsteller Julien Green notierte im Februar 1949 nach der Beerdigung seines Freundes – des Malers, Dekorateurs, Bühnenbildners und Modezeichners Christian Bérard – in seinem Tagebuch: „Man hätte meinen können, es sei eine nationale Trauerfeier. Die Literatur, die Malerei, das Theater, alle waren da …“ In den Reihen der Pariser Église Saint-Sulpice hatte man die Gesichter des Couturiers Christian Dior, der Mäzenin Marie-Laure de Noailles, des Künstlers und Dichters Jean Cocteau und des Schauspielers Jean-Louis Barrault erhascht, an den lila, rosa und grünen Kränzen, die den Sarg säumten, hingen Visitenkarten der Künstlerin Leonor Fini, des Choreografen Roland Petit, der Designerin Coco Chanel und vieler anderer. „Es waren so viele Leute gekommen, dass sie gar nicht alle reinpassten und einige auf dem Platz vor der Kirche warten mussten“, erzählt der französische Innenarchitekt Jacques Granges, ein langjähriger Bewunderer und Sammler von Bérard, der die aktuelle Ausstellung in der Villa Paloma in Monaco inszeniert hat, „Christian Bérard, Excentrique Bébé“.
Christian Bérard war so gestorben, wie man es dem Dramatiker Molière fälschlicherweise nachsagt: Mitten im Theater, mitten auf der Bühne, umringt von seinem gerade erst hochgezogenen Bühnenbild. „Das gefällt mir“, soll er an diesem Abend noch gesagt haben, „das ist Theater für Hunde“ – kurz darauf kippte er um. Und löste in der Pariser Kunstszene eine Welle der Trauer aus. „Er wird dem Leben fehlen. Nicht nur dem seiner Freunde, nicht nur dem künstlerischen Leben von Paris, sondern dem Leben an sich, das er mit so viel Magie füllte“, sagte der Regisseur Louis Jouvet wenige Tage später in einer nationalen Radiohommage für seinen Freund. Jean Cocteau fügte hinzu: „Bérard war neben Picasso der Einzige, der sich gegen die Dummheit der dekorativen Form auflehnte.“ Und Christian Dior erklärte, „Bébé“ sei nicht nur sein Kompass in Sachen Geschmack und Eleganz gewesen, sondern vor allem auch jemand, der „unter dem Anschein des Chaos das Leben schuf“. Man könnte etliche Künstlerinnen, Theatermacher und Modedesignerinnen aufzählen, die von Bébé inspiriert wurden. Vom Fotografen Cecil Beaton über die Schriftstellerin Colette, bis hin zu Lucian Freund, der das allerletzte Porträt von Bérard zeichnete, alle hatten ihm die ein oder andere ästhetische Erkenntnis zu verdanken. Wer war dieser zu früh verstorbene Mann, von dem viele behaupteten, er habe das künstlerische Leben des Paris der Dreißiger-, Vierzigerjahre mitbestimmt?
Die Geschichte des talentierten Monsieur Bébé beginnt im Sommer 1925. Wir befinden uns in Sainte-Maxime an der Côte d’Azur. Alles was schön, reich und lebensfroh ist, hat sich hier, an der Küste zwischen Hyères und Menton versammelt. Unter ihnen Christian Bérard, Sohn eines Pariser Architekten und der Erbin eines Bestattungsunternehmens. Er ist gerade dreiundzwanzig Jahre alt, hat an der prestigeträchtigen Académie Ranson bei Édouard Vuillard und Maurice Denis studiert und träumt davon, Maler zu werden. Er würde so gerne etwas Großes schaffen, schreibt er seinem Vater in diesen Tagen, oder im Zweifel auch nur „etwas halbwegs Gutes“. Es sieht aus, als wolle das Schicksal ihm dabei durch die Begegnung mit Jean Cocteau auf die Sprünge helfen. Cocteau ist damals bereits berühmt und fast zehn Jahre älter als der schüchterne Bérard, doch scheint er etwas in dem jungen Mann zu sehen. Ein Alter Ego vielleicht, ein Spiegelbild? „Solche Menschen erkennen sich sofort“, sagt Jacques Granges. Und er hat recht: Beide Männer, Bérard und Cocteau, teilen ästhetische Affinitäten. Sie lieben die populären Künste, den Zirkus und das Revuetheater, aber vor allem das Mittelmeer, seine Farben, sein Licht. Sie begeistern sich für die Antike, insbesondere für Griechenland, und können wenig mit der boomenden Ästhetik der Moderne, allen voran dem kühlen Kubismus anfangen. „Es ist mir nie gelungen, mich für das Schicksal einer viergeteilten Gitarre zu begeistern“, wird Bérard später einmal sagen, und auch wenn das etwas versnobt klingt – wie ein Spruch, den man auf einem Abendessen fallen lässt, um originell oder geistreich zu wirken –, kommt er wahrlich von Herzen.
Der Künstler wird sich nie für die Abstraktion erwärmen können, nie auch nur einen Strich in diese Richtung malen. Dafür ist er zu sehr am Geist seiner Modelle interessiert. Dafür ist er auch zu frei, zu verspielt, zu kindlich vielleicht. Ob Cocteau seinen Schützling deshalb „Bébé“ nennt, „Baby“? Oder ist es das Zeichen einer Zeit, die Namen zu Zweisilbern umformt, damit man sie besser von der Bar aus in den Ballsaal rufen kann: Coco! (Chanel), Gogo! (Schiaparelli), Lili! (de Rothschild)? Sicher ist, dass Cocteau nach diesem Sommer einiges in Bewegung setzt, um seinen Protegé so schnell wie möglich in der Pariser Szene zu etablieren.
Dank ihm empfängt Bérard noch im selben Herbst Serge Diaghilev in seinem Atelier, den Leiter der legendären Ballets Russes. Es geht um ein Bühnenbild, es wäre sein allererstes, nur macht der Künstler mit seiner verhuschten Art und seinen halbfertigen, vor Melancholie nur so triefenden Bildern einen schlechten Eindruck. Was soll das Ballett mit einem Mann, der über seine eigenen Maltöpfe stolpert und sich ziert, seine Kunst zu zeigen? Diaghilev verabschiedet sich schnell und kommt nie wieder. Etwas besser läuft die Begegnung mit besagter Coco Chanel, von der Bérard 1926 das erste Porträt mit Kohlestift anfertigt. Die Erfinderin des kleinen Schwarzen ist bezaubert von seinem Charme und seiner Fantasie, dieser unbeabsichtigten Exzentrik, die schüchterne Menschen oft an sich haben. Bébé kommt meist gut an, nur nicht bei Diaghilev, der in ihm partout nicht den nächsten Léon Bakst erkennen will, und auch nicht bei André Breton, der bekanntlich an akuter Homophobie leidet, oder Picasso, der Bérards Malerei fürchterlich fand. Der Rest der Pariser Kunstwelt ist verliebt in den außergewöhnlich freundlichen, herzensguten Exzentriker und seine Skurrilitäten: Wie er morgens mit nichts als einem Morgenmantel bekleidet auf die Straße stolpert, um sich ein paar Zeitungen zu holen. Wie er die Hälfte des Tages von Büchern und Bildern bedeckt in seinem Bett im First Hotel in liegender Position verbringt – so hat Henri Cartier-Bresson ihn fotografiert – oder von Kopf bis Fuß mit Farbflecken besprenkelt, in Latzhose und mit Hund unterm Arm, im Edellokal Maxim’s aufkreuzt und die Bourgeoisie mit seinem Obdachlosen-Look schockiert. Das gefällt den Kollegen, das amüsiert.