Ole Scheeren, der von Asien aus eine Weltkarriere machte, wird in seiner alten Heimat Karlsruhe mit einer Retrospektive gewürdigt. Ein Gespräch mit dem Stararchitekten über das Bauen in Fernost und im Westen, über Probleme der Nachhaltigkeit und die Frage, wie wir leben wollen
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18.11.2022
Ole Scheeren, Jahrgang 1971, sitzt in einem seiner Büros und grüßt in den Bildschirm. Der deutsche Architekt hat schon als Dreikäsehoch im Architekturbüro seines Vaters Baumodelle durcheinandergewirbelt, ehe er später in Lausanne und an der Londoner Architectural Association studierte sowie Lehrjahre beim Schweizer Luigi Snozzi und bei Rem Koolhaas’ Firma OMA in Rotterdam verbrachte. 2002 ging er nach Peking, um – zusammen mit Koolhaas – einen Turm fürs chinesische Staatsfernsehen CCTV zu bauen. Der Rest ist Geschichte. 2012 machte sich Scheeren in Fernost nach 15 Jahren bei OMA selbstständig und baut nun seit Jahren auf eigene Faust erfolgreich preisgekrönte Wolkenkratzer, Kunst-Kabinettstückchen und gigantische Wohnprojekte, unter anderem in Vancouver, Singapur, Vietnam, Thailand, China und vielleicht bald in Europa. Er hat in zehn Ländern, über die Welt verteilt, gelebt – seine vielen Büros arbeiten zu hundert Prozent international. Bei allen Projekten ging die Planung über die Coronazeit weiter. Aktuell sind in Shanghai zwei 285 und 265 Meter hohe Twin Towers im Bau, in Shenzhen zwei Headquarters für Techkonzerne in der Mache. Das Ferienhotel Sanya Horizon an der Küste Südchinas steht kurz vor Baubeginn, ein achteckiger Turm in Nanjing (dessen Wettbewerb Scheeren im April gewann) noch nicht. Viele abgeschlossene und künftige Bauwerke werden ab 10. Dezember im Karlsruher ZKM zu sehen sein, wenn Scheerens erste große Retrospektive beginnt.
Sie sind gerade 51 Jahre alt. Wollen Sie wirklich schon im Museum landen?
Das ZKM ist ja kein klassisches Ausstellungshaus. Wir können hier in Ruhe ausbreiten, was wir zwanzig Jahre lang als internationale Architekten gebaut haben und heute als Büro Ole Scheeren in vier Offices in Peking, Hongkong, London, Berlin sowie zusätzlichen Plug-ins in Bangkok und Amerika treiben, um in der Zukunft weltweit Gebäude mit Leben zu füllen.
Als Kunstmagazin erinnern wir Euch Baukünstler gern daran, dass die Architektur in Renaissance und Barock mal als Mutter aller Künste galt. Wie sieht es damit in digitalen Zeiten aus? Welche Rolle spielt Kunst in Ihrer persönlichen Architektur?
Das Mutterhafte daran ist natürlich einerseits, dass die Architektur eine sehr umfassende Kunst ist, die nicht nur das Technische, sondern auch das Geistige beinhaltet, etwa die Frage der Ästhetik. Das zweite ist, dass Architektur die Menschen tatsächlich wie eine Mutter beherbergt, ihnen einen Lebensraum gibt. Ich glaube, wir müssen diesen Part als einen kulturellen verstehen, als eine philosophische Aufgabe: Wie wollen wir leben? Welchen Lebensraum schafft die Architektur? Was machen die Räume mit uns? Über diese Fragestellungen definiert sich für mich der interessanteste Ansatz, über das Künstlerische in meiner Architektur zu reden.
Einige Architekten sagen ohne Weiteres von sich: Ich bin Künstler! Die Mehrheit des Berufsstands, zumindest in Deutschland, lehnt das eher ab. Diese Kollegen sehen sich lieber als Techniker, die für formale Probleme elegante Lösungen finden. Wozu gehören Sie?
Ich sehe mich weder als Techniker noch als Künstler. Ich fände es nicht richtig, mich in eines dieser Extreme zu flüchten und dort zu verschanzen, um dann da heraus dann eine De-facto-Legitimation zu ziehen. Für mich besteht die Aufgabe darin, diese Dinge zu verbinden. Als Architekten müssen wir konkret in der Lage sein, eine Synthese zu schaffen zwischen den Freiheiten und den Notwendigkeiten einer Umsetzung.
Aber ganz konkret: Steckt die Kunst vielleicht in der Anordnung der Volumina, in Oberflächen, Geometrien oder – wie bei ihrem Projekt „Duo“ in Singapur – in seriellen Fassadenmustern?
Die Idee der Konfiguration spielt jedenfalls eine große Bedeutung. In welche Verhältnisse setzen wir die Dinge zueinander? Das ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit, der bei jedem Gebäude den ästhetischen Wert und die Frage des Inhalts verbindet. In welcher Konstellation passiert was? Was wollen wir dort an Synergien, an Nähten, an Spannungen erzeugen? Die Körperhaftigkeit der Architektur, so wie wir sie entwickeln, entsteht jedoch nicht um ihrer selbst willen als abstraktes Bild. Sondern aus dem Gedanken heraus, was es bewirkt. Es gab in diesem Kontext ja die große Kontroverse über ikonische Bauwerke. Irgendwann waren die Ikonen mal ganz besonders hip. Dann wurden sie zu einem Riesenproblem gemacht. Ich glaube, es ist immer ein Fehler, wenn Gebäude nur um ihrer Form willen geschaffen werden. Wir haben dann begonnen, über Performative Icons zu sprechen. Und gesagt: Wenn Architekturen speziell aussehen, weil sie einen besonderen Zweck erfüllen, dann ist es doch gut, wenn sie ein eigenes Bild erschaffen, an das man sich auch erinnert.
Speziell für die Kunst gebaut haben Sie 2018, mitten in Peking entstand ein neuartiges Auktionshaus. Lässt sich das, was Sie gerade gesagt haben, daran festmachen?
Ja, das passt sehr gut! Unser Guardian Art Center ist eine Durchdringung von ganz vielen Kräftefeldern geworden: reine Kunst, performative Elemente, Pop Culture, Lifestyle. All das findet da statt. Ein hybrider Kunstraum vermittelt zwischen Kultur, Kommerz, Erfahrung, Produktion, Instandhaltung und Verkauf. Er ist zu Teilen Museum, Auktionshaus, Hotel, Restaurant, aber auch Lagerstätte für unglaublich wertvolle Kunstgüter. Wir haben versucht, eine Maschinerie der Durchdringung der Dinge in einer neuartigen Form zu entwerfen.
Mir fällt vor allem auf, dass Sie hier mit den Umrissen ans Limit gegangen sind.
Das ist der andere Aspekt: Unsere zeitgenössische Architektur musste sich städtebaulich in Beziehung setzen zu historischen Werten der chinesischen Kultur. Sie liegt nahe an der Verbotenen Stadt und grenzt direkt an eine große Hutong, wie die anderthalbstöckigen alten Wohnstrukturen in China heißen. Aber zugleich wirken die großvolumigen Gebäude des modernen Peking auf der anderen Straßenseite. Mein Bau ist eine Art Überlagerung dieser zwei sehr unterschiedlichen Maßstäbe – ausgedrückt einerseits durch kubenartige Verschachtelung im unteren Teil, die sich direkt mit den Hofhäusern der Hutong verbindet, während drüber ein „Ring“ schwebt, der die Größe der modernen City aufnimmt.
Also eine Verbindung zweier Zeitzonen?
Ja. Wir haben viel mit Materialität gearbeitet. Auf der einen Seite mit dem Glas der neuen Stadt. Auf der anderen mit dem Stein der alten. Es sind sehr viele Bedeutungen in den Texturen des Gebäudes aufgenommen. Dieser Ring ist in einer Ziegelstruktur aufgelöst und differenziert; es ist auch die der Hofhäuser. Und die Kuben und aufeinandergestapelten Pixel des unteren Teils sind perforiert mit einem riesigen Landschaftsbild, das zum Teil die Gründung dieses Auktionshauses herbeiführte und das wir über ein Raster abstrahiert haben, um so eine Art Filter zu schaffen und Licht in die Kunsträume zu bringen. Es steckt sehr viel Exaktheit in diesen künstlerischen Formen, die sich in Architektur umsetzen.