Henni Alftan

Anleitung zum Anderssehen

Wie beiläufige Alltagsbeobachtungen wirken die Malereien von Henni Alftan. Doch hinter ihnen steht die Frage, wie wir Bilder interpretieren. Ein Besuch im Pariser Atelier der finnischen Künstlerin

Von Laura Storfner
19.12.2022

Eine kleine Gasse im 18. Arrondissement von Paris. So schmal, dass gerade einmal ein Auto hindurchpasst. Fast-Food-Ketten, afrikanische Restaurants und Metzgereien, die damit werben, dass ihr Fleisch halal ist, säumen die Bürgersteige. Hier arbeitet die Künstlerin Henni Alftan seit mehr als sieben Jahren. Tritt man über die Türschwelle, steht man mitten in ihrem Atelier, umgeben von Gemälden. Manche hat Alftan an den Wänden angebracht, andere lehnen, verpackt in Luftpolsterfolie, auf dem Boden. Ein Zimmer, Küche, Bad – mehr braucht sie nicht für ihre Bilder, die Ausschnitte eines Alltags zeigen, den es so nie gegeben hat und nie geben wird.

Ein Kind will partout Künstlerin werden

Den Wunsch, Malerin zu werden, hatte die Finnin schon früh. 1979 in Helsinki geboren, war ihre Kindheit geprägt von den Freunden ihres Vaters, die als Maler ihr Geld verdienten. Als junges Mädchen verbrachte sie viel Zeit in Ateliers. „Mein Vater kaufte mir Ölfarben, was nicht gerade praktisch für eine Sechsjährige war“, sagt sie lachend und streicht sich die blonden Ponyfransen aus der Stirn. „Aber er war der Ansicht, dass eine echte Künstlerin in Öl malt, auch wenn sie erst sechs Jahre alt ist.“

Mit 18 verlässt Alftan ihr Zuhause und zieht zum Kunststudium nach Frankreich. „Ich war so froh, als ich endlich volljährig war“, erinnert sie sich. „Viele Leute sagen, Künstler wollen ewig Kinder bleiben. Bei mir war es umgekehrt: Ich war ein erwachsenes Kind, dass es nicht erwarten konnte, Künstlerin zu werden.“

Henni Alftan
Die finnische Künstlerin Henni Alftan, fotografiert von Lorraine Hellwig. © Lorraine Hellwig

Heute hängen ihre Gemälde in großen Sammlungen wie dem Hammer Museum in Los Angeles. In ihrem Heimatland ist sie aktuell für den Ars Fennica-Preis nominiert, mit dem jedes Jahr Künstlerinnen und Künstler aus den nordischen Staaten ausgezeichnet werden. Was von früher geblieben ist, sind die Ölfarben. In ihrem Studio mischt sie auf einem schlichten Rollwagen Farbtöne an: Taubenblau, Bordeauxrot, blasses Rosa. Mit gleichmäßigen Pinselstrichen entstehen hier scheinbar beiläufige Szenen auf Leinwand, von denen eine stille Spannung ausgeht.

Oft wirken ihre Gemälde wie Filmstandbilder – wie die verräterische Ruhe vor der nächsten großen Szene. Mal fällt in einem Wohnzimmer ein Streifen Sonnenlicht auf eine Kommode. Mal zeigt ein Funkwecker in Leuchtziffern an, dass es eine Minute nach Mitternacht ist. In der Klinge eines Messers spiegelt sich ein Gesicht. Alftans Stil ist reduziert figurativ, tastet in seiner Betonung von Farbe und Fläche aber an den Grenzen des Abstrakten entlang.

Alftans Szenen wirken seltsam vertraut

Als Betrachterin stellt man nicht in Frage, was Alftan zeigt. Denn ihre Szenen wirken auf seltsame Art vertraut. Ganz so, als würde man eine Traumsequenz wiedererkennen, die man bereits vergessen geglaubt hatte. Aber man fragt sich, wieso Alftan die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Detail lenkt. Denn, was um Himmels willen, passiert um zwei Minuten nach Mitternacht?

Henni Alftan Beach House
Das Ölgemälde „Beach House“ entstand 2021. © Courtesy the artist, Karma, New York and Sprüth Magers; Foto: Aurélien Mole 2021

Doch wer nach Antworten und Auflösung sucht, der erliegt ihrer Täuschung. Alftan will keinen Plot spinnen, keine Erzählung zu Ende bringen. Sie will tradierte Sehgewohnheiten und gelernte Interpretationsmuster sichtbar machen. „Meine Bilder enthalten Regeln des Sehens, die wir aus dem Kino, der Geschichte der Malerei oder der Fotografie kennen,“ sagt sie. „Aber ich male nicht nach Fotos oder Modellen. Erfunden sind meine Bilder auch nicht. Ich male sie aus dem Gedächtnis, ohne dabei bestimmte Szenen zu reproduzieren.“ Ihr geht es nicht um die schillernde Illusion, die Farbe auf Leinwand erzeugen kann. Was sie sucht, ist die einfachste und klarste Art und Weise, ein Objekt oder eine Geste darzustellen.

Zwei Bilder ergeben ein Déjà-vu

Wie sehr sie der Sehakt an sich beschäftigt, zeigt sich in ihrer Serie „Déjà-vu“, die aus Diptychen besteht. Alftan konzipiert die beiden Gemälde als Abfolge aus zwei Momenten, die sich minimal unterscheiden: Wir sehen eine Tür, die geschlossen wird. Einen Hund, der das Maul aufreißt und gähnt. Die Lippen einer Frau, die an einer Zigarette ziehen. Ausgestellt werden die Paare der Serie „Déjà-vu“ in zwei getrennten Räumen, so dass man – wie bei einem Déjà-vu – nur mit der Erinnerung lebt. „Ich habe versucht, einige Sammler zu ermutigen, die beiden Bilder in verschiedenen Häusern aufzuhängen“, sagt Alftan. „Mir würde die Idee gefallen, dass sie sie in verschiedenen Städten, auf verschiedenen Kontinenten anbringen.“

Henni Alftan After Midnight
Henni Alftans Ölgemälde „After Midnight“ von 2021. © Courtesy the artist, Karma, New York and Sprüth Magers; Foto: Aurélien Mole 2021

So genau wie Alftan ihre Worte wählt, so minutiös plant sie ihre Gemälde. Sie konzentriert sich ganz auf ein Bild, arbeitet nie parallel an mehreren Werken. „Ich gehe nicht, wie viele Leute meinen, ins Atelier und fange einfach an zu malen“, sagt sie. Ihre Praxis sei vielmehr mit der Arbeit einer Filmemacherin vergleichbar, die zunächst ein Drehbuch schreibt und ein Storyboard entwirft, bevor sie beginnt, zu drehen. „Für mich muss jedes Bild zuerst in Worte gefasst werden. Deshalb schreibe ich Listen mit Ideen, die ich umsetzen will. Es sind nur wenige Worte, denn niemand außer mir muss sie verstehen.“

Sie holt mehrere schwarz eingebundene Notizbücher hervor und blättert durch die Seiten. Eine kühle Eleganz geht von ihr aus, wenn sie sich durch den Raum bewegt. Aber sobald sie von ihrer Arbeit erzählt, werden ihre Gesichtszüge weich und ihre Augen strahlen. Auf dem Papier zeigt sie Bildanordnungen in Bleistift, die bis ins kleinste Detail austariert sind. Teilweise hat Alftan in einer Komposition Linien ausradiert und neu gesetzt. Anmerkungen zur Farbgebung oder zur Bildgröße erkennt man in ihrer Handschrift an den Rändern. „Ich habe mein Skizzenbuch, mein mobiles Atelier, immer bei mir“, sagt Alftan. „Aber ich mag es nicht, zu zeichnen, wenn die Leute einem über die Schulter schauen.“ Die Skizzen entstehen zu Hause, wo nichts ablenkt.

Lorraine Hellwig Henni Alftan Atelier Paris
Die Künstlerin Henni Alftan in ihrem Atelier in Paris, fotografiert von Lorraine Hellwig. © Lorraine Hellwig

Auch wenn Alftans Gemälde heute eine Sprache sprechen, die so mühelos wirkt, als formuliere sie ihren Gedanken direkt auf der Leinwand, fiel ihr das Malen nicht immer leicht. „Aber im Laufe der Jahre kam die Malerei immer wieder zu mir zurück. Ich konnte sie einfach nicht loswerden“, sagt sie. „Mir wurde klar, dass das, was die Malerei so schwierig machte, gleichzeitig so interessant war: Die Tatsache, dass ein Gemälde so etwas wie der Archetyp des Kunstobjekts ist und der Maler der Archetyp des Künstlers.“

Die Kunstgeschichte und ihre Ikonografie begleitet Alftan bei jedem Bild. Ihre tiefe Kenntnis der theoretischen Konzepte und Philosophie merkt man ihren Worten an. Auch wenn sie betont, dass sie nicht an künstlerische Vorbilder glaubt, findet man hier und da spielerische Verweise und Bildverwandtschaften. Lässt sie den Flaum eines Pelzmantels so stofflich erscheinen, als könnte man ihn auf der eigenen Haut spüren, fühlt man sich an den italienischen Maler Domenico Gnoli erinnert, der ein Meister der Texturen war. Lässt sie Haut als ebenmäßige Oberfläche von innen strahlen, sind Alex Katz’ makellose Gesichter mit im Raum.

Alftan nimmt auf, was sie umgibt. Inspiration kann sie überall finden. So sagt sie über den Schriftsteller Jorge Luis Borges: „Mich fasziniert die Art, wie er die Logik auf den Kopf stellt und uns die Realität hinterfragen lässt.“ Für ihre Kunst sind es weniger die großen Erfahrungen als die subtilen Beobachtungen, die sich im Kopf festsetzt. Von einer bestimmten Begegnung bewahrt sie einen Blick oder eine Geste auf, die sie später in Malerei übersetzt. „Meine Bilder sind nicht realistisch, aber sie sind auch nie surreal,“ sagt sie. „Sie sind plausible Vorschläge der sichtbaren Welt. Ich will die Leute dazu bringen, sie nicht nur zu sehen, sondern tatsächlich zu betrachten. “

Service

Ars Fennica-Preis

Henni Alftan ist aktuell für den Ars Fennica-Preis nominiert. Die Auszeichnung wird im kommenden Jahr vergeben und von einer Ausstellung im Museum of Contemporary Art Kiasma in Helsinki begleitet (8. September 2023 bis 29. Januar 2024)

Zur Startseite