Was mich berührt

Die Schönheit der Narben

In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 3: der Fotograf Peter Hujar und seine Ästhetik der Verletzlichkeit

Von Daniel Schreiber
30.12.2022

Eigentlich war es ein Zufall, der mich Mitte der 2000er-Jahre in das kleine Büro in der Upper East Side führte. Ich wohnte schon einige Jahre in New York und schrieb ein Buch über Susan Sontag. Über Wasser hielt ich mich mit verschiedenen Nebenjobs und war darauf angewiesen, dass mein Exfreund unsere Miete zahlte, damit ich mich dem Buch widmen konnte. Ich quälte mich damit, nicht nur weil es mein erstes war, sondern weil meine langjährige Verehrung für die große Intellektuelle durch die Beschäftigung mit ihrem persönlichen Leben Risse bekam, mit denen ich zunächst nicht umzugehen wusste. Eine der vielen Freundinnen und Freunde Sontags, die ich für die Biografie interviewte, hatte mir empfohlen, mit Stephen Koch zu sprechen, einem ihrer Weggefährten. Nun saß ich in dem kleinen Büro, umgeben von Regalen mit Kisten, die das künstlerische Erbe des Fotografen Peter Hujar enthielten, das Koch verwaltete. Susan Sontag hatte ein Vorwort für Hujars einzigen zu seinen Lebzeiten erschienenen Fotoband geschrieben. Doch die Geschichte der intensiven Freundschaft zwischen ihr und dem Fotografen entpuppte sich bald als die von zwei Menschen mit großen Beschädigungen, die wie so oft bei traumatisierten Menschen mit einem großen Zerwürfnis endete.

Peter Hujar Pferd 1969
Peter Hujars Aufnahme des Pferdekopfes entstand 1969. © The Peter Hujar Archive / VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Zum Schluss unseres aufschlussreichen Gesprächs, das mich traurig machte, gab Koch mir einen Bildband des 1987 an den Folgen seiner AIDS-Erkrankung gestorbenen Fotografen mit. Ich kannte sein Werk noch nicht. Heute werden seine Arbeiten regelmäßig ausgestellt, sie zieren Buch- und Albumcover und werden von Künstlerinnen und Künstlern wie Moyra Davey, Danh Vo, Nan Goldin, Wolfgang Tillmans oder Florian Hetz als Vorbilder verstanden. Damals lag sein posthumer Ruhm noch in weiter Ferne. Ich verbrachte die nächsten Tage damit, mir immer wieder Hujars Fotos anzuschauen und den Erschütterungen nachzuspüren, die mich ereilten. Obwohl die Schwarzweißaufnahmen zwei bis drei Jahrzehnte zuvor entstanden waren, hatte ich das Gefühl, dass sie mir seltsam vertraut waren. Einige der Fotos zeigten das lange zurückliegende, so heruntergekommene wie glamouröse Nachtleben schwuler Männer in New York, einige die Chelsea Piers am Hudson River, einen ehemaligen Cruising-Spot, der inzwischen teurem Bauland gewichen war. Auf anderen Fotos waren seltsam ergreifend wirkende Tiere zu sehen, auf wieder anderen die mit Totenschädeln gefüllten Katakomben in Palermo.

Ohne dass ich sagen konnte, warum, bewegten mich Hujars Porträts am meisten. Einige der darauf abgebildeten Menschen – Susan Sontag etwa, die Autorin Fran Lebowitz, der Schriftsteller William S. Burroughs, die Schauspielerin Candy Darling, die Künstler John Waters, Robert Wilson oder Paul Thek, Hujars erste große Liebe – waren in der Zwischenzeit berühmt geworden. Doch auch die anderen Freunde und Freundinnen, die Hujar porträtierte, kamen mir bekannt vor und waren mir auf eine Weise nahe, die ich nicht verstand. Viele von ihnen strahlten eine verletzliche Schönheit aus. Ihre nicht selten nackten Körper stammten aus einer Zeit vor der ubiquitären Fitnessstudioästhetik, was ihre Schönheit nur noch unterstrich. Viele von ihnen schauten so direkt in die Kamera, dass ich mich erkannt fühlte und glaubte, auch sie erkennen, sie berühren zu können. Es waren die eindrücklichsten und auch die schönsten Fotos, die ich je gesehen hatte.

Wer Peter Hujars Arbeiten kennt, wird kaum davon überrascht sein, wie schwer seine Kindheit und Jugend waren. Im Oktober 1934 in New Jersey geboren, gab seine alkoholkranke Mutter ihn zunächst bei seinen Großeltern, ukrainischsprachigen polnischen Geflüchteten, in Pflege, auf deren Bauernhof er in großer Armut aufwuchs. Seinen Vater sollte er nie kennenlernen. Mit elf Jahren zog er zu seiner Mutter, die inzwischen geheiratet hatte, nach Manhattan. Als sie, nicht zum ersten Mal, mit einer leeren Wodkaflasche nach ihm warf, während er auf dem Bettsofa im Wohnzimmer schlief, zog er aus und sollte nie wieder zurückkehren. Er war 16. Eine seiner Highschool-Lehrerinnen, die lesbische Lyrikerin Daisy Aldan, bot ihm einen Unterschlupf und ermunterte ihn nicht nur, seine Gefühle des Andersseins auszuleben, sondern unterstützte ihn auch in seinen ersten künstlerischen Gehversuchen.

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