Kleine Kunst für kleine Räume, große Formate in den Saal? Dieses Prinzip der Proportion gilt manchmal, aber nicht immer. Unsere Stilkolumne gibt Tipps für die Kunst im eigenen Heim. Folge 7: Für mehr Großzügigkeit
ShareDie Venus von Willendorf ist dreißigtausend Jahre alt, aber nur elf Zentimeter klein und spielt in der Dauerausstellung ihres Muttermuseums, des Naturhistorischen Museums in Wien, die allergrößte Rolle. So vermag die kleine Figur dem Staatssekretär des Heiligen Stuhls, Angelo Voiello, Wallungen der Lust zu entlocken, und zwar so große, dass Seine Heiligkeit Pius XIII ihn ermahnen muss („Stop looking at the Venus of Willendorf in that way!“). Das ist filmisch „dokumentiert“ — in der fiktiven Serie „The Young Pope“. Dort steht die Venus im Büro des Papstes. Es ist natürlich angemessen riesig. Dort steht auch ein immenser, leuchtender Globus, der eigentlich die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen müsste, dem Staatssekretär jedoch nicht aufzufallen scheint. Er hat nur Augen für die Eine. Eine ganz Kleine.
Größe spielt also keine Rolle. Proportion hingegen spielt eine große Rolle – würde sie eine kleine spielen sollen, müsste man sie anders proportionieren. Logisch? Ein anderes Beispiel: diese Kolumne. Mit ihren durchschnittlich viertausend Zeichen ist sie gemessen an der Größe des World Wide Webs ein Sandkorn in der Wüste Negev. Aber haben nicht auch Sie inzwischen schon Bilder niedriger gehängt (Folge 1), Teppich im Bad ausgelegt und Kunst in der Nasszelle platziert (Folge 2), Videokunst auf Ihr Homeentertainment-Endgerät gespielt (Folge 3), Ihr Bett ins Zentrum des räumlichen Geschehens gerückt (Folge 4), Ihre Bücher zu Podesten gestapelt (Folge 5) und Ihre Kostbarkeiten auf den Fenstersims platziert (Folge 6)? Eben. Etwas Kleines kann auch Großes bewirken.
Genauso kann etwas eigentlich Kleines, Nebensächliches plötzlich eine andere Wirkung haben, wenn es vergrößert wird. In der Kunst der vergangenen Jahrzehnte gibt es etliche Beispiele von Kunstwerken, die durch die Veränderung der Proportionen etwas Alltägliches zu etwas Wirkmächtigem erheben. Claes Oldenburgs und Coosje van Bruggens Eiscreme, Jeff Koons’ Luftballons, Cosima von Bonins Muscheln mit Persönlichkeit oder Peter Carl Fabergés Eier sind nur ein paar Beispiele dafür. Aktuell ziert die zentrale Eingangshalle des Museums der Moderne in Salzburg ein riesiger Teppichklopfer der deutschen Künstlerin Wiebke Siem. Überdimensioniert passend zu unserem Anliegen auch der Titel ihrer Ausstellung: „Das maximale Minimum“.
Was bedeutet das aber alles für uns und unsere 35-Quadratmeter-Appartements, für unsere 470-Quadratmeter-Wohnungen, für unsere Villen im Tessin? Es ist eine Frage des Rhythmus. Es geht um das Spiel der Proportionen. Niedrige Wände und kleine Räume scheinen oft erst mal nach ebenso kleinen Objekten zu verlangen. Dabei können sie, bis zu einem bestimmten Maß natürlich, Schauplatz für große Kunst sein. Und genauso können hohe Säle und große Räume eben auch klitzekleinen Dingen wie der Venus von Willendorf eine Bühne bieten.
Wenn man also zum Beispiel die Berliner Nachkriegs-Deckenhöhe von 2,5 Metern annimmt, verbietet es sich im Allgemeinen schnell, ein zwei Meter hohes Gemälde an die Wand zu hängen. Schade, denn wenn die Wahl auf ein gutes Bild fällt, bestimmt es den Raum, es regiert sein 250 Zentimeter hohes Reich. Am besten als Alleinherrscher, weitere Großformate stören den Betrieb. So wie ja auch der Vatikan, als kleinster Staat der Welt, eine absolute Wahlmonarchie ist. Wenn aber dem gewählten Bild an den übrigen Wänden Gehilfen, kleine Formate, gegenüberstehen, also hängen, entsteht etwas: Rhythmus, Spannung, Spiel, spatialer Witz. Und der Raum wird zum Mitspieler, seine fehlende Größe zu seiner Stärke. Wer wenig Platz hat, muss großzügig damit umgehen.
Stella von Senger ist Creative Director, Sebastian Hoffmann Galerist bei Ebensperger, Cecil von Renner ist Schauspieler. Gemeinsam betreiben sie den Stil- und Einrichtungsservice TADAN.