In seiner Kolumne „Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?“ befragt Christoph Amend jeden Monat den Kurator Hans Ulrich Obrist nach seinen Entdeckungen. Diesmal geht es um Paris, die Künstlerin Simone Fattal und eine einflussreiche Feministin
Von
16.01.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 209
Paris. Davon erzähle ich Ihnen gleich, aber in den letzten Tagen habe ich vor allem das Manuskript eines neuen Buchs gesehen, das ich gerade fertig schreibe. Der Schweizer Schriftsteller Bernard Comment hat im Pariser Verlag Édition du Seuil eine eigene Buchreihe und mich zu Beginn der Pandemie für einen Beitrag angefragt. Das Buch soll noch in diesem Jahr erscheinen und wird Themen behandeln, über die ich kaum je spreche, wie etwa über die Kunst meiner Mutter, die Künstlerin war. Auf Deutsch wird es vom Kampa Verlag aus Zürich verlegt werden.
Paris war ja immer meine Exilheimat, ich habe dort sechzehn Jahre lang gelebt, von 1991 bis 2006.
In Paris habe ich eigentlich alles gelernt, wie man Ausstellungen kuratiert, wie man ein Museum leitet. Es kamen wichtige Menschen in mein Leben, die mich viel gelehrt haben und bis auf den heutigen Tag inspirieren. Durch einen davon, Christian Boltanski, habe ich eine meiner Mentorinnen, Suzanne Pagé, kennengelernt. Pagé war Direktorin des Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, und ich habe damals das Projekt „Migrateurs“ ins Leben gerufen und in den Jahren 2000 bis 2006 als Kurator für ebendieses Museum gearbeitet. Ich führe ja ein transnationales Leben …
… aber wenn es eine Stadt gibt, die den Mittelpunkt meines Lebens bildet, dann ist es Paris, dorthin zieht es mich immer wieder zurück. Das Wichtigste waren diesmal die persönlichen Begegnungen, ich habe Simone Fattal besucht, das erste Mal, seitdem ihre langjährige Partnerin Etel Adnan verstorben ist.
Sie ist eine großartige Bildhauerin und Verlegerin, die ein unglaublich vielfältiges Werk geschaffen hat, Zeichnungen, Skulpturen, Literatur. 1980 gründete sie in Kalifornien den Verlag Post-Apollo Press, dort hat sie auch die Bücher von Etel verlegt.
Der Besuch bei Simone war für mich eine Rückkehr in die magische Wohnung der beiden, in der meine vielen Gespräche mit Etel stattgefunden haben. Die beiden lebten eigentlich in Kalifornien, aber in den letzten Jahren konnte Etel nicht mehr fliegen, also waren sie die meiste Zeit in ihrer Wohnung in Paris. Ich habe die beiden immer am Ende des Jahres besucht, wir haben gemeinsam Weihnachten gefeiert, das war unser Ritual.
Es war großartig, Simone wiederzusehen, wir haben viel geredet, aber natürlich hat Etel gefehlt. Städte sind auch Menschen, und wenn die Menschen, die einem etwas bedeuten, nicht mehr da sind, sind sie nicht mehr dieselben Städte. Große Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstler und Künstlerinnen prägen die Identität ihrer Städte, das wird oft unterschätzt. Faszinierend war auch mein Besuch bei Hélène Cixous, die mittlerweile 85 ist, eine der einflussreichsten Schriftstellerinnen und Feministinnen Frankreichs. Sie hat mir etwas erzählt, was mir seitdem nicht aus dem Kopf geht. Wenn man in Amerika in einen Buchladen oder in eine Bibliothek geht, findet man ihre Bücher in den unterschiedlichsten Abteilungen. Dazu sagte sie einen guten Satz: „Wir sind eine Pluralität, wir müssen diese Pluralität kultivieren.“ Das hat mir Etel auch immer gesagt, sie war ja Schriftstellerin, bildende Künstlerin, Architektin. Cixous’ Rat, auch an jüngere Autorinnen und Autoren, ist deshalb: Niemand soll sich nur für eine Person halten, wir sind immer mehrere. Ich will noch kurz von einem dritten Besuch erzählen bei einer weiteren alten Pariser Freundin, der Künstlerin und Modemacherin Agnès B. Sie wohnt im Haus des Arztes von König Ludwig XIV., mit Christian Boltanski und ihr habe ich vor langer Zeit eine Posterzeitschrift mit dem Titel „Point d’Ironie“ gestartet. Wir wollen sie auch im neuen Jahr fortsetzen, für die nächste Ausgabe konnten wir Yoko Ono gewinnen.
Auf einen Pavillon, den Tomás Saraceno im Sommer für die Serpentine Gallery gestalten wird: erstmals nicht für Menschen, sondern für Tiere.