Architektur

Humane Häuser

Mit einem Sanatorium brachte Alvar Aalto die Moderne nach Finnland. Seine organisch komponierte Architektur, die sich wie seine Möbel an der Natur orientierte, machten ihn zum epochalen Baukünstler. Vor 125 Jahren wurde er geboren

Von Sebastian Preuss
02.02.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 209

Es ist grau und kalt, normales Wetter im finnischen Winter, der sich gern schon im September ungemütlich ankündigt. Aber Helsinki strahlt auch jetzt seine ganz besondere Atmosphäre aus. Dazu gehören die Lage am Meer, die zahllosen Buchten und Inseln, die Mischung aus russischem Klassizismus, dem romantischen Heimatstil aus der Zeit der National- und Unabhängigkeitsbewegung um 1900, ein elegantes Jugendstilviertel voller Design- und Antiquitätengeschäfte, vor allem aber eine Moderne, die ihren spezifischen Charakter trotz aller internationalen Verflechtungen des prosperierenden Landes nie verloren hat. Die Straßenbahn bringt uns in den Vorort Munkkiniemi, wo sich Apartmentblocks mit frei stehenden Anwesen abwechseln. Dazwischen in der Riihitie 20, etwas eingeklemmt von den Nachbargrundstücken, ein magischer Ort für alle, die sich für finnische Architektur, ja überhaupt für die Moderne der Vor- und Nachkriegszeit interessieren. Es ist das Wohnhaus von Alvar Aalto.

Alle Finnen sind auf irgendeine Weise mit Aalto aufgewachsen. Sie gingen in seine Kirchen, studierten in seinen Bibliotheken, besuchten Veranstaltungen in seinen zahlreichen Kulturbauten, lebten mit seinen Möbeln zu Hause oder begegneten schon als Kinder im Wohnzimmer der berühmten „Savoy“-Vase aus amorph geschwungenem Glas, dem Verkaufsschlager des Glas- und Geschirrherstellers Iittala. Aalto ist ein finnisches Nationalmonument. Er brachte Ende der 1920er das Neue Bauen ins Land und erwarb sich mit einem Sanatorium internationalen Ruhm, den er mit seinen Weltausstellungspavillons in Paris 1937 und New York 1939 festigte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er in der ganzen Welt gefragt. In Cambridge bei Boston baute er ein Studentenwohnheim, eines seiner Meisterwerke, in Berlin, Bremen und Luzern raffinierte Mietshäuser, in Wolfsburg ein Kulturzentrum und zwei Kirchen. Der Kunsthändler Louis Carré ließ sich von ihm bei Paris ein spektakuläres Domizil errichten, der Bischof von Bologna eine Kirche an den Hängen der Apenninen. Mit seinen Bauten wie mit seinen Möbeln sorgte Aalto dafür, dass Finnland in der Welt als Land der Moderne wahrgenommen wurde. Und wenn „Finnish Design“ heute in aller Welt anerkannt und nachgefragt ist, dann stand er ganz am Anfang dieser Entwicklung.

Tuberkulosesanatorium Paimio Alvar Aalto
Beim 1928 bis 1935 errichteten Tuberkulosesanatorium in Paimio folgte Alvar Aalto dem neuen Funktionalismus von Le Corbusier und Walter Gropius. Mit heiter schwingenden Kurven wie in der Eingangshalle und ungewöhnlichen Farbkombinationen ging er aber schon darüber hinaus. © Jaska Poikonen/Paimio Sanatorium

Als Aalto im Herbst 1936 mit seiner Frau Aino, den Kindern Hanni und Hamilkar sowie zwei Hausangestellten in das neue Domizil einzog, war er 38. Drei Jahre zuvor war er mit der Familie und dem Architekturbüro von Turku in die Hauptstadt gezogen. Nach dem Erfolg des Sanatoriums und auch der weiß gleißenden Bibliothek in Viipuri (seit dem Zweiten Weltkrieg russisch) galt Aalto als der bedeutendste nordische Vertreter des Funktionalismus. Er war in den CIAM, den exklusiven Club der modernistischen Architekten, aufgenommen worden und schon bestens vernetzt in den Kreisen von Le Corbusier und Walter Gropius. Auch viele Avantgardekünstler wie László Moholy-Nagy, Fernand Léger, Alexander Calder oder Constantin Brâncuși gehörten zu seinen Freunden. Der Funktionalismus war wichtig für Aalto, aber im Grunde war er ihm zu rational und zu doktrinär. Prophetisch erkannte er die drohende Menschenfeindlichkeit, die Monotonie und Seelenlosigkeit, wohin die glatten Fassaden und kubischen Blöcke in der Massierung führen würden.

In seinem Privathaus demonstrierte er seinen Weg aus dem Dilemma von Form und Funktion. Zwar ist hier alles aus der Kubatur entwickelt, aber Aalto gruppierte und verschachtelte diese, komponierte immer wieder überraschende Unregelmäßigkeit hinein. Es ist ein organischer Bau, der zwischen innen und außen vermittelt, durch große Fenster in die Natur hinausblicken lässt und in ständigem Auf und Ab die verschiedenen Niveaus erschließt. Das Künstlerische und Malerische war Aalto immer wichtig, hier ließ er es erstmals in einer fast skulpturalen Architekturlandschaft voll zur Geltung kommen. Charakteristisch sind die Materialien, die er nebeneinander benutzte: Ziegel, Holz, Wände aus Flechtwerk nach japanischem Vorbild, auch die emporrankenden Pflanzen an den Fassaden gehören dazu. Wie immer experimentierte er viel und entwickelte Lösungen, die das Leben angenehmer machten, etwa Waschbecken, die so gestaltet waren, dass der Wasserstrahl leise auf die Keramik fiel. Natürlich stehen im Salon seine leichten Sessel und Tische mit den Gestellen aus gebogenem Birkenholz. Aber im Esszimmer bevorzugte Aalto schwere traditionelle Stühle mit Schnitzwerk.

Aino Aalto Alvar Aalto
Aino und Alvar Aalto 1940 in New York, wo sie die Möbel von Artek vorstellten. © Herbert Matter/Courtesy of Aalto Family Collection

Hinter einer Schiebewand im Wohnzimmer öffnet sich das Büro, auch dies auf verschiedene Ebenen verteilt. Da Aalto in den Dreißigerjahren schon viel beschäftigt war und sich wie seit Beginn seiner Laufbahn intensiv an Architekturwettbewerben beteiligte, war es eng im Studio. Eine herausragende, nicht zu unterschätzende Rolle nahm seine Frau Aino ein. Als junge Architektin hatte sie kurz nach Gründung seines ersten Büros in Jyväskylä 2023 bei ihm zu arbeiten begonnen. Schnell wurden beide ein Paar, 1924 heirateten sie. Alvar führte Aino immer mit auf, wenn es um seine Architektur ging, auch wenn sie nie kontinuierlich mitarbeitete.

Göran Schildt – der Aalto eine monumentale, dreibändige Biografie widmete, die sehr in die Tiefe seines Charakters und seiner unermüdlichen Aktivitäten geht – sammelte Erinnerungen von ehemaligen Mitarbeitern im Büro, die auch Ainos Rolle erhellen. An den Grundideen der Bauten war sie selten beteiligt, sie sprühte auch nicht so vor Ideenreichtum wie Alvar, wurde aber allseits geschätzt und geliebt für ihre sanfte Ausstrahlung, mit der sie für Stabilität im turbulenten Leben ihres Mannes sorgte. Am intensivsten brachte sie sich in die Entwicklung der Möbel und bei Fragen der Inneneinrichtung ein. Bei einem Wettbewerb der Glaswerke Iittala stach sie Aalto aus; ihre Gläser, schalen und Kannen aus Pressglas werden bis heute von der Firma unter ihrem Namen hergestellt.

Alvar Aalto Esszimmer Küche
Esszimmer und Küche in Alvar Aaltos Wohnhaus. © Mirva Kakko/picture alliance/dpa

Aalto war gewiss kein Verfechter des Feminismus, da stand ihm schon entgegen, dass er bei allem, was er tat, immer Macher und Leitwolf sein musste. Aber er schätzte starke, intelligente Frauen. Schildt, der mit ihm eng befreundet war, schildert ihn als „Ladykiller“. Eine Schwedin diktierte dem Biografen nach Aaltos Tod ihre erotische Erinnerung aufs Band: „Aino war auch keine Heilige. Manchmal tauschten wir unsere Männer, so modern und befreit waren wir Frauen. Ich muss sagen, Alvar war ein wunderbarer Liebhaber, meine Güte! Er hatte ein unglaubliches Verlangen nach Zärtlichkeit. Er hat es bei allen versucht. Aber sein Flirten war immer so humorvoll und unschuldig, dass man ihm nicht böse sein konnte.“

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