Interview mit Andres Lepik

Bauen gegen die Armut

Für wen bauen wir eigentlich? Die neue Ausstellung des Architekturmuseums in München widmet sich der Architektin Marina Tabassum aus Bangladesch. Wir sprachen mit Andres Lepik, dem Direktor des Museums, über ein wenig beachtetes Land, Häuser in Zeiten des Klimawandels und das menschliche Maß

Von Alexander Hosch
27.02.2023

Andres Lepik empfängt im Erdgeschoss der Pinakothek der Moderne. Der Chef des Architekturmuseums hat schon vor der Schau von Marina Tabassum ein traditionelles Haus aus Bangladesch im Eingang aufbauen lassen, wie es in den Überschwemmungsgebieten üblich ist und der Architektin als Inspiration diente. Die asiatische Architektin passt in das Programm, das der Museumschef seit 2013 entwickelt hat: Bauen für die Gesellschaft. Mit Präsentationen über Architektur im globalen Süden einerseits und zu Themen wie Obdachlosigkeit oder Genossenschaften andererseits. Lepik arbeitete an der Neues Nationalgalerie in Berlin und gestaltete als Kurator am New Yorker MoMA Ausstellungen, ehe er Professor der TU München wurde. Parallel leitet er das Architekturmuseum.

Was gefällt Ihnen selbst am besten an der neuen Ausstellung?

Dass wir darin ein kaum bekanntes Land kennenlernen können, das in der europäischen Perspektive oft nur mit Armut oder Naturkatastrophen verbunden ist. Wir zeigen, wie ich glaube, atmosphärisch sehr schön, wie Bangladesch aus der kolonialen Vergangenheit seine eigene Architekturkultur hervorgebracht hat. Wie sich durch die besondere Geografie ganz spezielle Denkweisen in der Architektur etabliert haben.  

Warum wollten Sie Marina Tabassum vorstellen?  

Ich habe sie persönlich bei der Jurysitzung des Aga Khan Awards getroffen, des wichtigsten Architekturpreises der islamischen Welt, der seit 1980 für nachhaltige und soziale Architektur vergeben wird. Ich lud sie danach zu einem Vortrag nach München und da waren die Studierenden so begeistert, dass wir uns entschlossen, mit ihr zusammen eine umfassende Ausstellung zu organisieren.

Andres Lepik
Der Museumsdirektor und Architekturhistoriker Andres Lepik, fotografiert von Ulrike Myrzik. © Foto: Ulrike Myrzik

Sind Architektinnen und Architekten in Bangladesch in erster Linie Problemlöser, Techniker oder Künstler?

Keine ganz einfache Frage. Bangladesch erlangte die Eigenständigkeit erst 1971 durch einen blutigen Krieg. 80 Prozent des Landes liegen nur knapp über dem Meeresspiegel – also man ahnt, was da passieren könnte in den nächsten Jahren. Durch drei große Flüsse wird sozusagen das gesamte Wasser des Himalayas in den Golf von Bengalen getragen. Die Ströme verlagern dabei kontinuierlich ihr Flussbett – das beschäftigt die Bevölkerung und damit auch die Architekten ständig. Viele Bauaufgaben werden im Land von den Ingenieuren gelöst, aber Architektur als eigene Kulturdisziplin gewinnt an Bedeutung.

Werden kostengünstige Baustoffe wie Lehm dort geschätzt oder eher abgelehnt?

Leider Letzteres. Durch die Ausrichtung auf ein von den industrialisierten Ländern geprägtes System des Bauens glauben die Menschen in Bangladesch, dass ihre eigenen Traditionen nicht genug wert sind. Und durch die globalen Medien bekommen sie täglich die Bilder unserer Luxushäuser transportiert – und somit die Botschaft, dass ein Lehmhaus etwas Rückständiges ist. Dieses Umdenken von 180 Millionen Einwohnern zu erreichen, ist sehr schwierig.  Denn wenn die Menschen, die selbst nur einen Bruchteil des  CO²-Abdrucks von Europa oder den USA haben, und extrem von von den steigenden Meeresspiegeln bedroht sind, von uns hören, dass sie Lehmhäuser bauen sollen, denken sie: Ändert doch erstmal Ihr euren Lebensstandard und verbraucht weniger CO2! Wir können da nicht in einer neokolonialen Weise sagen: Ihr macht das falsch!

Was heißt das für die Architekten?

Tabassum arbeitet auf beiden Linien: sie erfüllt die Erwartungen mit den durchkomponierten Ziegelarchitekturen, etwa ihrer Moscheen. Auf der anderen Seite experimentiert sie auch mit natürlichen Baustoffen wie Bambus – etwa mit dem Frauenzentrum im Flüchtlingslager der Rohingya oder mit den mobilen Häusern, die in Flussnähe aufgestellt werden, wo viele sehr arme Menschen leben. Die Bauweise wird auch deshalb akzeptiert, weil sie ein einheimisches Vorbild ist. Da findet eine Aufwertung gut verfügbarer Materialien durch eine Frau statt, der das Ausland Respekt zollt – zum Beispiel durch unsere Ausstellung.

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Ein Modell-Haus vor der Pinakothek der Moderne, München. © Lisa Luksch

Sind Europäer, die den Aga Khan Preis kriegen, dann Vorbilder oder eher Außenseiter?

Da ist etwa Anna Heringer, die in Linz unterrichtet, ein gutes Beispiel. Sie baut in Bangladesch mit Handwerkskenntnissen aus lokalen Traditionen und verbessert sie für eine CO2-neutrale Architektur. Lehmbau, wie Heringer ihn macht, wird im Kleinen umgesetzt. Doch im Großen bewundern die Menschen Beton, Glas, Stahl, gebrannte Ziegel als dauerhaftes Material. Und das wird in den Ländern des globalen Südens auch noch lange so sein. Da sollten wir mehr tun, um unsere Rolle als Vorbild gut auszufüllen. Wir müssen zeigen, dass auch wir in Europa nachhaltige Traditionen wieder aufgreifen und fortsetzen. 

Ist Bauen im Ganges-Delta ohne Gedanken an Klimawandel überhaupt denkbar?

Alle wissen, dass allzu langfristige Lösungen in diesem instabilen geografischen Kontext so gut wie unmöglich sind. Deshalb sind Tabassums „kleine Häuser“ (Khudi Bari) aus Bambus so angelegt, dass man alles Wichtige einfach in die obere Etage heben kann, bis das Wasser wieder abfließt. Außerdem lassen sie sich leicht umsetzen, insofern können die Menschen sich bei Hochwasser rasch selbst helfen.

Was wird in Asien besser gemacht, wenn es um gemeinschaftliches Bauen geht?

Bei Umzügen dieser mobilen Häuser hilft in der Regel die ganze Dorfgemeinschaft mit. Das ist so eine partizipative Denkweise, wie wir sie hier ja schon längst verloren haben. Man agiert dort mehr als Kollektiv. Deshalb waren unsere beiden Kollegen aus Bangladesch, die hier jetzt das Muster-Haus vor der Pinakothek errichteten, ein bisschen in Panik, weil sie zweifelten, ob sie das zu zweit schaffen können, wofür zu Hause ein Dorf fünf Tage braucht. Bis unsere Kollegen dann mit dem Kran kamen. Wir hier zählen eben auf Maschinen, dort vertraut man darauf, dass alle mitmachen.

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Innenansicht des Panigram Resorts in Bangladesch. © Afzalur Rahman Xelon

Das Haus draußen vor der Pinakothek ist von einem Markt. Das kann jeder einfach kaufen?

Ja. Fertigteile, Teakholz und Wellblech, zwei Etagen für eine Familie, 6 bis 7 Personen. Die Durchschnittstemperatur ist dort angenehm – es geht nie über 30 und selten unter 15 Grad. Man kann eigentlich das ganze Jahr draußen leben, braucht das Haus nur für den Schutz und zum Schlafen. Es ist in vier, fünf Tagen aufgebaut und steht erhöht, damit man bei leichtem Hochwasser kein Problem hat. Und wenn der Fluss näherkommt, dann bauen die Bewohner ihr Dorf ab und an besserer Stelle wieder auf. Dadurch, dass das fruchtbares Überschwemmungsland ist, können sie ihre Tiere einfach mitnehmen und anderer Stelle, wo sich neue Landflächen gebildet haben, wieder Ackerbau und Viehzucht treiben. Die 4000 Dollar, die so ein Haus kostet, sind aber nicht für jeden erschwinglich. Deshalb hat Marina Tabassum ein kleines Bambushaus mit Eisenverbindungen erfunden – wir haben auch das für die Schau aufgebaut. Es kostet nur 200 Dollar, exklusive der Vor- und Aufbauarbeiten. Die leistet nämlich die Dorfgemeinschaft.

Ist das in Afrika auch üblich, oder gibt es diese Art Haus-Wirtschaft nur hier?

Ähnliche Prozesse gibt es auch in Afrika, etwa in Mali oder Burkina Faso, wo indigene Dorfgemeinschaften ihre traditionellen Lehmbauten kontinuierlich anpassen oder nach starkem Regen und Zerstörungen gemeinsam neu aufbauen.

Sprechen wir über das Bauen hierzulande. Was muss sich denn bei uns ändern?

In den letzten 30 Jahren haben wir in Europa zunehmend bemerkt, dass wir uns nicht einfach von den globalen Konflikten und Krisen abschotten können. Da gibt es auf der einen Seite die wachsenden Probleme der Klimaerwärmung, der Energie- und Wasserversorgung und auf der anderen Seite die Flüchtlingsströme, ausgelöst durch Kriege in Jugoslawien, Syrien, Ukraine, aber auch aus politischen, ökologischen und anderen Gründen. Wir erleben eine kontinuierliche Wellenbewegung an Zustrom, den wir im Prinzip ja auch brauchen. An diese komplexen Entwicklungen, die weiter fortschreiten werden, müssen wir unsere Bauaktivitäten anpassen. Eine zentrale Frage dabei ist: Sind unsere Standards für den Wohnungsbau nicht viel zu hoch?

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