In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber Künstlerinnen und Künstler vor, die ihn besonders bewegen. Folge 5: Giovanni Battista Tiepolo in Venedig
ShareDer winterliche Nebel über Venedig, seine berühmte nebbia, ist in den vergangenen Tagen kaum aufgebrochen. Er liegt wie ein beruhigender Schleier über der Stadt, lässt Palazzi und Kanäle verschwinden und schenkt dem Cyanblau der Lagune, dem bröckelnden Weiß und dem ausgeblichenen Siena der historischen Fassaden eine fast melancholische Eleganz. Wenn ich reise – wie gerade bei einem Aufenthalt im wunderbaren Centro Tedesco di Studi Veneziani –, gehört es zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, Kirchen zu besichtigen, und in diesem nebeligen Venedig ist das besonders schön.
Ich bin nicht religiös. Meine Angewohnheit muss irgendwann mit einer gewissen Neugier begonnen haben und vielleicht dem Gefühl, mich auf den Spuren von Edith Wharton und Henry James zu bewegen, deren Romane ich gerne lese. Über die Zeit ist die Neugier einem Staunen über die großen kunsthistorischen Schätze gewichen, die in vielen dieser Bauten zu besichtigen sind – gerade in Venedig, wo sich in jeder zweiten Kirche Fresken von Tintoretto oder Bilder von Bellini, Tizian und Veronese zu verstecken scheinen.
Die Fresken, die mich auf den Touren der vergangenen Tage am meisten angezogen haben, stammen von Giovanni Battista Tiepolo (1696–1770). Zuerst war ich davon überrascht. Unter den großen Malenden Venedigs galt er in der Kunstgeschichte lange als jemand, den man nicht ganz so ernst nehmen musste. Seine leichten, bewegten Arbeiten scheinen am Ende der Maltradition des ausklingenden Barocks und des beginnenden Rokokos zu stehen und dem aristokratisch-klerikalen Ancien Régime Europas in einem späten, dekorativen Stil zu einer letzten Apotheose zu verhelfen. Doch ich hatte Probleme damit, dieser Einschätzung zu folgen. Bei jedem Bild, jedem Fresko, das ich mir anschaute, wuchsen meine Zweifel daran. Ich fand sie wunderschön und überhaupt nicht verbohrt.
Von den Treppen der dominikanischen Santa Maria del Rosario in Zattere, einer der schönsten Kirchen Venedigs, kann man auf das dunkle Wasser und die im Nebel versinkenden Schemen von Giudecca, der gegenüberliegenden Insel, schauen. Im Innenraum der Kirche erhebt sich über dem Mittelschiff Tieopolos 14 Meter langes und viereinhalb Meter breites Fresko „Die Einsetzung des Rosenkranzes“ von 1739. Es ist eine Art malerisches Wunder, angefangen damit, dass man sich schlicht nicht vorstellen kann, wie es jemals auf die Decke dieses Kirchenschiffs kam. Es zeigt den heiligen Dominikus, wie er, an eine palladianische Balustrade gelehnt, den Gläubigen den Rosenkranz überreicht.
Unter der Treppe der Balustrade, die die Architektur der strahlend weißen Kirche fortzusetzen scheint, taumeln in Form halbnackter Körper personifizierte Sünden wie Geiz und Hochmut aus dem Rahmen des Bildes. Über allem, in den Wolken, die fast zwei Drittel der Fläche des Freskos einnehmen, schwebt die sanft dreinschauende Madonna, umgeben von schwirrenden Engelchen. Doch jede Inhaltsbeschreibung tut dieser Arbeit eigentlich unrecht. Man muss die Geschichte, die in diesem Bild anklingt, nicht kennen, um es zu verstehen. Alles in diesem Fresko scheint sich in Bewegung zu befinden. Es lässt sich nicht wirklich in Worte fassen, mit welcher Leichtigkeit und welcher malerischen Bravura Tiepolo es auf die Kirchendecke bannt. Mit welchem Witz, welcher Intelligenz und welcher gloriosen Traumlogik er die Szene entwirf und mit welcher Souveränität er an den eigenen Erfahrungsschatz anknüpft, um die allegorischen und heilsgeschichtlichen Figurengruppen wirklich erscheinen zu lassen. Man möchte sich am liebsten auf den Kirchenboden legen, um sich dem Taumel dieses Freskos ganz hinzugeben. Was auf den ersten Blick wie herrliche Dekoration daherkommt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als der buchstäbliche Einbruch des Himmels in die diesseitige Architektur der Kirche.
Man weiß wenig über das private Leben Tiepolos. Wahrscheinlich auch weil seine Werke nicht vermuten lassen, dass er mit jenen inneren Dämonen zu kämpfen hatte, die man in den Biografien von Malenden lange erwartete. Wenn etwas über sein Leben bekannt ist, hat es in der Regel direkt mit seinem Werk zu tun. Etwa weiß man von seiner großen Verehrung für Veronese, den wahrscheinlich lustvollsten Maler des Cinquecento. In gewisser Hinsicht dekonstruiert Tiepolo in seinem Werk das Repertoire des alten Meisters und setzt es wieder neu zusammen – noch exaltierter, noch aparter und spielerischer als Veronese selbst. Er schien in diesem Verfahren eine malerische Sprache zu finden, in der er seiner Begabung freien Lauf lassen und die er immer weiterentwickeln konnte. Neben der Schaulust, zu der seine Arbeiten herausfordern, gibt einem diese durchgängige Referenzialität irgendwie das Gefühl, dass eines von Tiepolos eigentlichen Themen das Malen selbst war – die durch und durch moderne Frage, was Malerei kann und wozu sie imstande ist.