Marina Abramović lehrt seit diesem Winter die Kunst der Performance an der Folkwang-Hochschule in Essen. Ein Gespräch über charismatische Studierende, ihr Holocaust-Mahnmal in Kiew und ihre Rolle als Vorreiterin
ShareIch habe schon in vielen Ländern unterrichtet, aber ich hatte noch nie ein Klasse wie diese. Deshalb hat mich das so begeistert, deshalb wollte ich das unbedingt machen. Ich wollte eigentlich schon aufhören mit dem Unterrichten, aufgrund meines Alters …
Ich habe auch mein Institut, bei dem ich mit jungen Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeite. Als Salomon Bausch, der Sohn der Choreografin Pina Bausch, und der Direktor der Folkwang-Universität mich gefragt haben, ob ich diese Aufgabe übernehme, habe ich drei Tage überlegt. Ich wohne ja in New York und muss immer extra aus Amerika kommen, es ist also nicht ganz leicht. Aber was mich überzeugt hat, war, dass das Erbe von Pina Bausch eine multidisziplinäre Klasse ist. Die Hochschule in Essen hat so viele verschiedene Abteilungen, das fand ich wirklich aufregend. Die Bewerberinnen und Bewerber sollten ihre Biografie schicken, ein Werk, und sie sollten schreiben, warum sie in meine Klasse wollen. Von den 25 Studierenden, die wir ausgesucht haben, studieren nur sehr wenige Tanz, die meisten kommen aus anderen Disziplinen. Da sind Theaterschauspieler, angehende Regisseure, Drehbuchschreiber, Jazzmusiker, zwei Opernsänger, ein Saxofonist, ein Elektromusiker. Es sind also wirklich 25 sehr verschiedene Individuen, die etwas machen wollen, was ich unterrichte, nämlich Langzeit-Performances. Die jüngste in der Klasse ist 17 Jahre alt, die älteste ist 41. Das ist ein großes Abenteuer. Sie wollen alle aus ihrer Komfortzone heraus und etwas Neues machen. In den ersten zehn Unterrichtstagen haben wir schon hervorragend gearbeitet. Wenn Leute das Gleiche studieren, gibt es normalerweise viel Konkurrenz, auch Eifersucht. Aber bei diesem multidisziplinärem Team, wo die Leute sich vorher nicht kannten, unterstützen sie sich sehr untereinander. Die Gruppe ist auch sehr international. Sie sehen, mein Enthusiasmus ist sehr groß.
Das ist eines der Dinge, die ich bereue: Ich habe sie nie persönlich getroffen. Ich wollte sie immer gerne treffen, aber in den Siebziger- und Achtzigerjahren hatte sie ihre Karriere, und ich hatte meine. Wir haben beide hart gearbeitet und unsere Wege haben sich nie gekreuzt. Aber immer wenn ich Gelegenheit hatte, ihre Arbeit zu sehen, ging ich hin. Geistig fühle ich mich ihr sehr nahe. Der Spirit ihrer Lehre ist mir so vertraut, deshalb ist es so eine Ehre für mich, die erste Pina Bausch Professorin zu sein. Was ich auch interessant finde, ist, dass die Professur jedes Jahr wechseln soll. Das finde ich sehr wichtig. Wenn ich da bin, arbeiten wir sehr intensiv, auch am Wochenende, die Studierenden gehen zu keinem anderen Kurs in der Zeit. Diesen Enthusiasmus, mit dem ich da rangehe, den hat man nicht, wenn man das zwei oder drei Jahre macht. Man gewöhnt sich dann daran. Außerdem habe ich gedacht, dass es ein Ziel geben muss. Also bin ich zum Folkwang Museum in Essen gegangen und habe mit dem Direktor gesprochen. Und er gab mir zehn Räume – das ist wirklich sehr, sehr viel, die komplette Zeitgenossenabteilung –, um dort etwas zu machen. Dort können die Studierenden ihre Langzeit-Arbeiten zeigen. Und zwar nicht nur für einen Abend, sondern für zehn Tage. Wir werden also zehn Tage lang, jeweils sechs Stunden am Tag die Performances zeigen. Wir zeigen das in einer realen Situation, vor echtem Publikum.
Ja, genau. Eine Performance über zehn Tage ist eine sehr herausfordernde Angelegenheit. Wenn ich sonst mit jungen Künstlerinnen und Künstlern arbeite, gehen die Performances acht Stunden am Tag. Aber ich unterrichte die Studierenden nur knapp ein Jahr, deshalb machen wir nur sechs Stunden am Tag. Es startet jeden Tag um 12 Uhr und geht bis 18 Uhr.
Das Erste ist: Ich schaue nach charismatischen Studierenden. (lacht) Das ist ein wichtiger Punkt. Mein Assistent Billy Saul, ein junger Kurator aus New York, der mit mir auch in meinem Institut zusammenarbeitet, und ich haben drei Wochen lang alle Bewerbungen sehr genau angesehen. Wir haben die Auswahl erst auf 45 begrenzt und dann auf 25. Als ich dann nach Essen kam, habe ich jede von ihnen gebeten, sich einfach für eine Minute vor uns hinzustellen, nicht länger. Wenn Sie das machen, wissen Sie alles: Wie jemand den Raum einnimmt, ob jemand Charisma hat oder nicht, wie die Beziehung zu den Menschen ist, wie sie von den anderen angeschaut werden, das ganze Energielevel. Dann sehen Sie, wer sich als Künstler gut entwickeln kann und wer nicht. Ich suche immer nach den charismatischsten, denn es ist leicht, mit ihnen zu arbeiten. Wenn ich unterrichte, zeige ich ihnen dann gar keine Arbeiten von mir, sondern ein guter Lehrer war für mich immer jemand, der das Potenzial eines Künstlers sieht. Der in ihre Köpfe gelangt und ihnen ermöglicht, ihre eigenen Ideen zu entwickeln. Aber Charisma kann man nicht lernen. Du hast es oder du hast es nicht, du bist damit geboren
Wenige Monate, bevor der Krieg begann, habe ich in der Gedenkstätte Babyn Jar die große „Wall of Crying” eröffnet. Bei der Eröffnung in Kiew waren der deutsche, der israelische und der ukrainische Präsident anwesend. Es ging darum, an dieses furchtbare Verbrechen zu erinnern, bei dem die Nazis mehr als 30.000 Menschen innerhalb von drei Tagen ermordeten. Und wir alle waren uns einig: Das darf niemals wieder geschehen. Die Geschichte darf sich nicht wiederholen. Nur zwei Monate später hat sich die Geschichte wiederholt. Es geht hier um eine größere Geschichte, nicht nur um den Krieg in der Ukraine, um Putin und darum, dass wir die Ukrainer unterstützen müssen. Ich habe mich dazu schon geäußert …
Ja. Es geht auch um die alte Frage: Warum müssen Menschen töten? Warum müssen Menschen so schrecklich sein? Es gab immer Kriege in der Geschichte, sie haben nur unterschiedliche Namen. Als der Krieg im Balkan ausbrach, der mir sehr naheging, brauchte ich mehr als drei Jahre, um Kunst zu schaffen, die darauf Bezug nahm. Ich habe das auf eine sehr persönliche Ebene gebracht und meine Eltern mit einbezogen, um zu verstehen, wie Nachbarn sich gegenseitig umbringen konnten. So ist es auch in der Ukraine. Ukrainer und Russen sind vielfältig verbunden, sie sind verheiratet miteinander, haben Kinder zusammen. Wie kann man das erklären? Ich kann da immer nur den Dalai Lama zitieren: „Nur wenn du lernst zu vergeben, kannst du aufhören zu töten.” Putin wird alles daran setzen, diesen Krieg nicht zu verlieren, um sein Gesicht zu wahren. Er folgt dieser wahnsinnigen Idee, die Ukraine ins Russische Reich zu integrieren. Aber meine Arbeit für Babyn Jar hat den Krieg bislang überstanden. Am Anfang der Angriffe auf Kiew wurde der nahegelegene Fensehturm bombardiert, aber dennoch fehlt bislang kein einziges Stück Kristall. Die Menschen dort säubern die Kristalle, sie leuchten in der Nacht. Die Arbeit hat jetzt einen doppelten Sinn, sie ist eine doppelte Klage: Es geht um die Verbrechen der Nazis, aber auch um den russischen Krieg in der Ukraine.
Ich bin ein sehr neugieriger Mensch, da bin ich wie ein Kind. NFT sind für mich am nächsten zur Immaterialität. Die Arbeit „Hero“ habe ich gewählt, weil ich finde, dass wir mehr Helden in unserer Gesellschaft brauchen. Menschen, zu denen wir aufschauen können, Menschen wie Gandhi. Ich habe diese Arbeit ursprünglich für meinen Vater gemacht, der ein Nationalheld war. Indem ich die Arbeit als NFT wieder aufgriff, habe ich sie neu zum Leben erweckt. Damals war NFT wichtig, aber es hat sich nicht gut entwickelt. Wir hatten gehofft, die Arbeit zu verkaufen, denn ein Teil des Erlöses sollte an einen virtuellen Raum gehen, ein Web-3.0-Projekt, in dem junge Menschen an Lösungen für unsere Zukunft arbeiten. Aber jetzt ist der Markt ziemlich kollabiert, sodass die Realität der NFTs nicht sonderlich gut ist. Aber man weiß nie, wie es sich entwickelt. Ich war einfach glücklich, etwas Neues zu machen.
Ich nenne es nicht Retrospektive. Es ist einfach nur das Beste, was ich gemacht habe in den fünfzig Jahren meiner Karriere. Es ist überhaupt nicht chronologisch, man wird sehr alte Werke neben sehr neuen sehen, oder auch ganz neue Werke, die noch nie gezeigt wurden. Was mir hier wichtig ist und ein echtes Statement: 250 Jahre waren keine Frauen in der Royal Academy. Das ist wirklich verrückt. Nur Tracey Emin, eine wunderbare Künstlerin, hatte die Möglichkeit, dort ihr Werk zu zeigen. Aber das war in anderen Räumen, sie haben ihr nicht die großen Flächen gegeben. Es ist großartig, dass ich jetzt dort eine große Ausstellungsfläche habe, und ich verstehe das als Plattform, denn es gibt so viele fantastische Künstlerinnen, die mir dort folgen sollten. Ich bin wie ein Traktor, der einen neuen Boden bereitet für diejenigen, die nach mir kommen. Deshalb ist das so ein großes Projekt für mich. Ich wollte nie Feministin sein, ich wollte nie Unterschiede machen zwischen männlicher und weiblicher Kunst. Für mich ist Kunst eins, sie hat kein Geschlecht, es gibt nur gute und schlechte Kunst. Aber je älter ich werde, desto mehr Ungerechtigkeiten sehe ich bei den Ausstellungsmöglichkeiten für Künstlerinnen. Es gab große Künstlerinnen, und sie wurden aus der Geschichte getilgt. Das ist nicht fair. Darum geht es auch bei dieser Ausstellung.