Für seine Bilder bereist Alec Soth die kulturellen Randzonen der USA. Sein neuestes Buch erzählt von der Spaltung der Gesellschaft, von Abraham Lincolns Leichnam und von kuriosen Begegnungen mit seinen Helden der Fotografie
Von
17.03.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 206
Unter den großen Bilderzählern Amerikas ist Alec Soth wohl derjenige mit den meisten Kilometern auf dem Tacho. Der 1969 geborene Magnum-Fotograf aus Minneapolis durchquert mit dem Auto die entlegensten Winkel der Vereinigten Staaten, wo der Lack vom Lebenstraum der Menschen abgeplatzt ist. Sein heute bei Sammlern sehr begehrtes Buch „Sleeping by the Mississippi“ (2004) bündelte kleine Alltagsgeschichten von den Ufern des legendären Stroms. Zwei Jahre später entzauberte er mit „Niagara“ den Romantiknimbus der berühmten Flitterwochendestination. Vergangenes Jahr ist sein neues Buch „A Pound of Pictures“ erschienen, in dem Soth abermals einen Referenzpunkt der amerikanischen Kultur zum Anlass für sein Projekt nahm: die Reise von Abraham Lincolns Leichnam im Jahr 1865 von Washington, D.C., in seine Heimatstadt Springfield, Illinois.
Herr Soth, viele Ihrer Bücher basieren auf ausgiebigen Roadtrips durch die USA. Warum brauchen Sie die endlose Straße, um Ihre Bilder zu finden?
Das hat unterschiedliche Gründe. Einerseits komme ich, ohne das bewusst zu thematisieren, aus der amerikanischen Tradition der Road Photography. Das ist der fotografische Dialekt, den ich zu einer bestimmten Zeit gelernt habe. Und andererseits habe ich festgestellt, dass mir diese Art zu arbeiten, bei der ich reise und Neues entlang des Weges entdecke, liegt. Ein Element führt zum nächsten. Manchmal wünschte ich schon, ich könnte zu Hause bleiben, meine Familie fotografieren und so mitreißende Werke schaffen. Aber irgendwie brauche ich das Gefühl, mich durch die Welt zu bewegen. Es ist das Benzin für meine Fotografie. Es macht sie lebendig, und es macht mich lebendig.
Ähnelt diese Art zu arbeiten nicht der Bewusstseinsstrom-Technik in der Literatur?
Ja, absolut. Es ist der Versuch, eine Welle zu reiten und dabei in einen bestimmten Flow zu kommen.
Der Highway ist auch ein Mythos. Zu ihm gehört das Versprechen eines Paradieses, das hinter der nächsten Wegbiegung zu finden ist und doch niemals erreicht wird.
Dieser spezielle Highway-Mythos ist vor allem mit dem Bild des Cowboys verbunden. Die Idee, auf dem Pferd einsam in die Prärie zu reiten. Oder auf dem Motorrad.
Geht es in Ihren Büchern auch immer um das verlorene Paradies? Um das Scheitern des amerikanischen Traums?
Nein, denn für mich ist der amerikanische Traum ein ziemliches Klischee, das stark mit dem Bereich der Ökonomie und einem ganz bestimmten Fünfzigerjahre-Ideal des eigenen Hausbesitzes verknüpft ist. Heute glauben viele Menschen nicht mehr daran, und es ist auch kein Startpunkt für meine Arbeit. Denn der Begriff ist so groß und so überstrapaziert. Mein Interesse ist eher psychologisch oder introspektiv und weniger auf die amerikanische Kultur bezogen. Mein Buch „Sleeping by the Mississippi“ sagt sicher Dinge über Amerika aus, aber ich war dabei eher an meinen eigenen Gefühlen interessiert, die übrigens wirklich zum Teil mit der Straße-Cowboy-Mythologie verbunden waren. Und „Niagara“ handelte vor allem von Liebe und Enttäuschung.
Warum empfinden wir eine Schönheit in diesen Abbildungen von Enttäuschung?
Ich denke, weil das die Realität ist. Wir finden Schönheit in einer Blume, aber sie wird verwelken. Alles ist vergänglich. Es kling schmalzig, das zu sagen, aber der Tod ist überall. Warum handelt die Fotografie immer davon? Warum handelt die Kunst immer davon? Weil es sich nicht schön anfühlt, wenn es zuckersüß ist, wenn es total falsch ist.
Ihr neuestes Buch, „A Pound of Pictures“, wirkt nun wie eine große Reflexion über das Thema Fotografie.
Mein Ziel mit diesem Buch ist es nicht, ein Statement zum Medium abzuliefern. Oder ein umfassendes Projekt zum Thema Fotografie. Es geht mir eher um meinen eigenen Arbeitsansatz: diese prozessgetriebene, dem Dokumentarstil nicht unähnliche Fotografie. Eine Art Reflexion in der Rückschau. Aber durch meine eigene Linse betrachte ich in diesem Buch natürlich auch alle anderen Formen von Fotografie bis hin zur Amateurfotografie.
Sie haben unterwegs unter anderem lokale Fotoklubs besucht oder Hobbyfotografen getroffen, die ihre Schätze in großen Kartons aufbewahren. Sammeln Sie selbst Fotografien?
AS Ja, denn wenn ich viele preiswerte Fotografien sammele, kann ich damit herausfinden, wie einer Sache Wert zugewiesen wird, ohne von der schieren Quantität überwältigt zu werden. Ich schärfe dadurch mein Blick für die redaktionelle Arbeit. 2013 habe ich zum Beispiel ein kleines Buch über meine Sammlung von Pingpong-Amateurfotografien herausgegeben. Ich mag Tischtennis und hatte begonnen, die Aufnahmen aus einer Laune heraus zu sammeln. Und dann hatte ich plötzlich genug Bilder für ein Buch. Eine Weile lang habe ich auch Fotografien von Wippen gesammelt. Die Wippe ist für mich zu einem Symbol für die Porträtfotografie geworden – für den Austausch von Energie, hin und her zwischen dem Fotografen und dem porträtierten Menschen.
Für „A Pound of Pictures“ entstanden einige der Aufnahmen entweder im Lebensumfeld oder als direkte Porträts berühmter Fotografen wie Nan Goldin oder Duane Michals. Deren fotografische Praxis wird jetzt im Buch gewissermaßen von Ihrer eigenen Alec-Soth-Bildsprache überlagert. Zu welchem Zweck?
Ich sehe es eher als eine Art Hommage. Das Buch ist meinen Lehrern gewidmet, den tatsächlichen und denen im übertragenen Sinn: all den Menschen, die mich inspiriert haben.