Was mich berührt

Die Blumen des Guten

In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 6: Georgia O’Keeffe und die Momente des Staunens

Von Daniel Schreiber
31.03.2023

Sie sind selten. Jene Momente, in denen man plötzlich etwas zu verstehen glaubt, das zuvor im Dunkeln lag. Momente, in denen sich etwas fast unmerklich verschiebt, sich ein Schleier lüftet. Manchmal machen sie sich durch ein Gefühl bemerkbar, das dem kurzen Aussetzen eines Herzschlags gleicht, durch etwas Dumpfes in der Magengegend. Und was mit einem in diesen Momenten wirklich geschieht, erkennt man eigentlich erst im Nachhinein. Oft erinnert man sich noch Jahre später daran.

Georgia O'Keeffe Summer Days Whitney Museum
Zu Georgia O’Keeffes strahlendem Ölgemälde „Summer Days“ (1936) kehrte Daniel Schreiber häufig zurück. © Digital image Whitney Museum of American Art / Licensed by Scala / courtesy Hatje Cantz / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Einen solchen Moment erlebte ich zu Beginn der 2000er-Jahre, als ich zum ersten Mal eine Arbeit von Georgia O’Keeffe sah. Ich war Anfang 20 und wohnte in New York. Mein damaliger Partner und ich besuchten das Whitney Museum, das sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Madison Avenue an der Upper East Side befand. Während wir durch die Hallen streiften, weckten viele der Arbeiten mein Interesse. Viele gefielen mir oder lösten etwas in mir aus, und über manche der ausgestellten Künstlerinnen und Künstler wollte ich mehr wissen. Doch dann stand ich plötzlich vor diesem Bild, auf dem der ausgebleichte Schädel eines Hirsches über dem blau-weißen Himmel einer bergigen Wüstenlandschaft schwebte, einfach so mit den Blüten amerikanischer Wildpflanzen verziert, mit sonnengelben Rudbeckien und helllila Raublattastern. Und ich hatte das Gefühl, dass sich irgendetwas Entscheidendes für mich veränderte, dass ich eigentlich erst jetzt verstand, was Malerei sein konnte. Etwas, das mich nicht mehr losließ, das Erleben einer gelungenen Kommunikation, das Lüften eines Geheimnisses. Es war, als würde sich etwas von O’Keeffes strahlender Arbeit „Summer Days“ (1936) auf mich übertragen, und ich konnte nicht sagen, was. Ich wusste nur, dass ich häufig zu diesem Bild zurückkehren würde und alles sehen wollte, was diese Künstlerin noch gemalt hatte. Das mag sich alles ein wenig esoterisch anhören, aber genauso fühlte es sich an.

Georgia O’Keeffe (1887–1986) ist die wahrscheinlich bekannteste Malerin Amerikas, wo ihre Nahaufnahmen von Blumen, ihre Bilder von New Yorks Hochhäusern der 1920er-Jahre, von in der Wüstensonne ausgebleichten Tierschädeln und -knochen und von traumwandlerischen, abstrakten und semiabstrakten Landschaften beinahe den Status von Ikonen genießen. Ihr „Jimson Weed/White Flower No. 1“ (1936), das großformatige Bild von vier weißen Stechapfelblüten, ist mit einem Zuschlag von 44,4 Millionen Dollar das teuerste Bild einer Malerin, das je versteigert wurde – ein unvorstellbarer Betrag, auch wenn er immer noch nicht an die Auktionsrekorde für Maler wie Picasso, Modigliani, de Kooning, Rothko und Pollock heranreicht. Jene Maler also, die O’Keeffe zeitlebens als „the men“ bezeichnete – als die Männer, deren Urteil und Einfluss sie zu entkommen versuchte.

Georgia O'Keeffe Todd Webb
Die Künstlerin 1959 mit Kamera am Strand, porträtiert von Todd Webb. Das Cincinnati Museum widmet ihr aktuell eine Ausstellung, die ihr künstlerisches Schaffen als Fotografin beleuchtet. © Todd Webb Archive, Portland, Maine, USA

Die europäische Öffentlichkeit begegnete der Malerin lange mit gemischten Gefühlen. Das lag zum einen an der omnipräsenten Misogynie, die die Kunstwelt bis heute bestimmt. Zum anderen an O’Keeffes schwer einzuordnender, sehr amerikanisch wirkender Singularität. Ihr Werk lässt sich als eine Symbiose aus der formalen Bildsprache der europäischen klassischen Moderne und einem amerikanischen Piktorialismus lesen. Allerdings war ihr Interesse für Europas Moderne und seine Kultur im Allgemeinen relativ begrenzt. Sie erzählte zeitlebens zwar, dass ihr frühes Werk von Kandinsky und seinen Gedanken zu Malerei, Musik und purer Abstraktion beeinflusst worden sei, aber Europa und seine Museen sollte sie erst in hohem Alter besuchen. In einem Alter, in dem sie schon lange in New Mexico lebte, wo sie malte, ihre Gärten pflegte, enigmatische Tongefäße schuf und die einfachen, bestechend eleganten Kleider nähte, die sie trug. Einem Alter, in dem sie sich als eine Art unabhängige, selbst erschaffene Hohepriesterin der Wüste inszenierte – und in vieler Hinsicht auch genau das war.

Eine abstrakte Landschaft O’Keeffes gehört zu den wenigen Gemälden, die mich in einem Museum jemals zu Tränen gerührt haben. Das geschah über zwanzig Jahre nach meiner ersten Begegnung mit der Malerin, in einer großen Retrospektive ihrer Arbeiten in der Fondation Beyeler in Basel. „From the Lake, No. 1“ (1924) spielt virtuos mit der emotionalen Wirkung von Farbe und Form und macht eine Eigenschaft unserer Erfahrung von Natur spürbar, die nur schwer in Worte zu fassen ist. Die ausgestellten Werke reichten von ihren ersten abstrakten Kohlezeichnungen über ihre berühmten Blumengemälde bis hin zu ihren späten, radikal abstrakten Bildern, und während ich sie mir anschaute, hatte sich unmerklich eine große Spannung in mir aufgebaut, die sich nun vor diesem Landschaftsbild entlud. Das lag unter anderem an den Blumenbildern, die dort versammelt waren. Ich hatte noch nie so viele auf einmal gesehen. Ein Stechapfelbild war darunter, eine doppelte Mohnblüte, zwei Schwertlilien, eine rote Canna, ein Dreiblatt-Feuerkolben – und in ihrer Abfolge schien sich ihre Wirkung ins Unendliche zu potenzieren. Auch zwei Jahrzehnte nach meiner ersten Begegnung sagten mir O’Keeffes Arbeiten etwas, lösten Erschütterungen in mir aus, machten mich sprachlos.

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