In seiner Kolumne „Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?“ befragt Christoph Amend jeden Monat den Kurator Hans Ulrich Obrist nach seinen Entdeckungen. Diesmal geht es um Madrid, den brasilianischen Maler Lucas Arruda und um künstliche Intelligenz
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03.03.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 210
Madrid. Von da komme ich gerade und sitze in diesem Moment in London im Taxi. In Madrid haben wir eine neue Ausstellung aufgebaut, ich kuratiere dort jedes Jahr eine Schau für die Stiftung der Sammlerin Patrizia Sandretto Re Rebaudengo. Die Idee ist ein nomadisches Museum.
In vielen Großstädten gibt es magische Orte, die niemand besucht. Es gibt überall Perlen, die viel zu wenig Beachtung finden, und das wollen wir ändern. Gerade in Madrid mit seinen vielen bedeutenden alten Orten, Palästen, Hausmuseen ist das sehr reizvoll. Ich mache die Ausstellungen gemeinsam mit der Produzentin Isabela Mora.
Genau, vor zwei Jahren haben wir die digitalen Animationen von Ian Cheng in einem historischen Innenhof mit analogen Pflanzen kombiniert, und im vergangenen Jahr dann Michael Armitage in der Academia gemeinsam mit Radierungen und Zeichnungen von Goya. In diesem Jahr sind wir an einen ganz besonderen Ort gegangen, der nicht nur für Touristen neu ist, sondern auch für viele Madrilenen: das Athenäum aus dem 19. Jahrhundert, das damals schon Künste und Wissenschaften zusammengebracht hat. Es gibt dort eine unglaubliche Bibliothek mit mehr als 20.000 alten Büchern über Botanik, Kunst und Wissenschaften allgemein.
Ja, wir zeigen Bilder des brasilianischen Malers Lucas Arruda, geboren 1983. Er macht seit über zehn Jahren sehr atmosphärische, dichte, kleinformatige Bilder von Wäldern, aus dem brasilianischen Dschungel ganz in der Nähe von São Paulo. Er ist oft in einem Haus direkt am Dschungel, streift durch die Wälder und malt sie anschließend aus dem Gedächtnis.
Er sagt, dass ihm die Erinnerung wichtig ist, gerade in einer Zeit, in der wir ständig alles fotografisch festhalten. Es sind also keine dokumentarischen Bilder, sondern seine Vorstellungen vom Wald.
Für ihn ist das wie ein Portal, hinter dem Unerwartetes passieren kann, Mysteriöses. Wenn man sich im Wald verliert, hat er mir erzählt, begegne man dem Wesen des Waldes, und je nachdem, wie man sich verhält, sei es eine positive oder eine negative Begegnung. Man nennt das Curupira, und wenn man sich im Wald verloren hat, muss man drei Holzkreuze auf den Boden legen, um den Bann zu brechen. Es geht in seinen Arbeiten auch viel ums Licht, das ist für ihn die Verbindung zwischen den Welten.
Genau das ist der Effekt, wenn man seine Bilder betrachtet, man ist fast geblendet. Sie erinnern mich manchmal an die Arbeiten von einem meiner Lieblingsmaler aus Venezuela, Armando Reverón, an dessen Intensität.
Ich war im Jahr 2000 und dann wieder 2015 länger in Brasilien, ich habe zwei Künstlerbücher mit Gesprächen gemacht, eins mit der Generation der 1960er-Jahre, der Tropicália-Bewegung, und eins mit den Künstlerinnen und Künstlern der neuen Generation, unter anderem eben Lucas Arruda.
Es geht ja beim Aufbau immer darum, neue Ansichten herzustellen. Das hat mir Richard Hamilton …
… gesagt: Man erinnert sich vor allem an Ausstellungen, die eine unerwartete Ansicht, einen neuen Gesamteindruck geboten haben – so wie Marcel Duchamp, der einst Bilder an Seilen aufgehängt hat. In der Bibliothek mussten wir gar nichts erfinden, es gibt schon diese wunderbaren grünen Tische, die perfekt zu den Bildern passen, wir haben nur die Wandvitrinen zusätzlich mit grünem Filz ausgestattet. Es ist wie eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert.
Auch ich bin natürlich fasziniert von den neuen Entwicklungen bei OpenAI, den künstlichen Intelligenzen. ChatGPT beispielsweise. Ja, ich werde mich bald mit Sam Altman unterhalten, dem Gründer von OpenAI. Vielleicht werden sie uns Menschen nicht ersetzen, hoffentlich, aber es wird ein neuer Dialog zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz entstehen, da bin ich sicher.