Der Fotograf Stephen Shore hat ein Buch mit Drohnenaufnahmen amerikanischer Landschaften veröffentlicht. Wir sprachen mit ihm über das Projekt, das während der Pandemie entstand
ShareIn den Kunstbuchhandlungen liegt seit Februar ein neuer Bildband des amerikanischen Fotografen Stephen Shore aus: „Topographies: Aerial Survey of the American Landscape“. Das Buch entfaltet auf knapp zweihundert Seiten ein Portfolio aus Luftaufnahmen nordamerikanischer Landschaften von Nebraska bis New York. Ein Großteil der Bilder ist in Montana im Westen der USA entstanden, wo Stephen Shore mit seiner Frau den Lockdown verbracht hat. Hier leben nur wenige Menschen, die Region ist geprägt von den Rocky Mountains, den Great Plains und einem riesigen Naturschutzgebiet, das sich bis nach Kanada erstreckt. Dementsprechend sind die Aufnahmen bestimmt von den mal gebirgigen, mal flachen Landschaften, in denen sich die Menschen nach und nach angesiedelt haben. Die scheinbar sachlichen Aufnahmen von Landschaften und Industriegebieten, bieten bei genauerem Hinsehen einen großen Reichtum. Allein die Straßen, die sich mal an einem Felsen entlangschlängeln, sich ein anderes Mal durch die Landschaft bis in die weite Ferne ziehen oder als sich kreuzende Highways Ornamente bilden. Auch bei den Siedlungs- und Industriegebieten zeigt sich diese menschgemachte unbewusste Vielfalt. Jede Ortschaft ist anders, und man kommt aus dem Entdecken gar nicht heraus.
Aufgenommen wurden die Luftbildaufnahmen des Bandes mithilfe von Drohnen. Schon zu Beginn des Projekts im Jahr 2020 wurde ihm schnell bewusst, erklärt uns Stephen Shore, dass man bei einer Kameradrohne nur aus mehr oder weniger drei verschiedenen Aufnahmeperspektiven wählen kann: gerade nach unten, im Winkel nach unten, gerade nach vorne. Dabei habe er gemerkt, dass er die radikale Vogelperspektive vermeiden wollte, weil die Bilder dann zu grafisch geworden wären. Entschlossen hat er sich für eine Perspektive nach vorn, mit einem wechselnden Blickwinkel nach unten, sodass immer auch wieder der Horizont oder der Himmel zu sehen sind. Dass auf den Bildern immer die Sonne scheint, war ihm nicht für die Stimmung wichtig, sondern wegen des Lichts, von dem die weite Landschaft durchströmt wird. Die Aufnahmen sind gestochen scharf. Auch wenn die Distanzen sich stark voneinander unterscheiden, bleibt immer deutlich zu erkennen, um was es sich bei dem Abgebildeten handelt. Im Buch werden alle Fotografien in einem gleich großen Querformat präsentiert, jeweils versehen mit einer präzisen Lokalisierung und Angaben zum Datum, zur Uhrzeit und zu den GPS-Daten. Es sind Topografien. Dieses Verfahren schließt auf verblüffende Art und Weise an das Frühwerk des Fotografen an, das damals auf langen Roadtrips durch die USA entstanden ist und den Blick auf den Alltag und das Banale richtet.
Stephen Shore ginge es bei diesem Projekt darum, Ortschaften, von denen man von unten nur erahnen kann, wie sie entstanden sind, mithilfe einer neuen Perspektive zu verstehen. An dieser Stelle erwähnt der Fotograf ein Beispiel aus einem vergangenen Projekt: auf dem Cover der ersten Ausgaben seines Buches „Uncommon Places“ ist das Foto einer Straße, an deren Ende das Land und die Natur beginnt. Diese sichtbaren Grenzen zwischen Stadt und Land würde man in den USA immerfort sehen, es sei aber sehr schwierig, sie zu fotografieren. Aber aus der Luft ist es möglich. Wenn er mit der Drohne fotografieren würde, erlebe er eine völlig neue Art zu sehen. „Es ist, als ob ich mit einem Blitz einen dunklen Raum ablichten würde, in dem ich zuvor noch nie war.“ Als Clément Chéroux, damals Leiter der Fotografie-Abteilung des MoMA,, die Bilder sah, verglich er sie mit einer außerkörperlichen Erfahrung. Und tatsächlich, wenn man sich die Bilder anschaut, und sich das ganze Verfahren vor Augen führt, kann man selbst diese Erfahrung nachempfinden. Mehrmals im Gespräch beschreibt der Fotograf die Arbeit mit der Drohne auch als eine Form der Erkundung.
Und wie hat er gewusst, wann der Auslöser zu betätigen sei? Tatsächlich hätte er bei diesem Projekt mehr Aufnahmen als sonst gemacht, erzählt Stephen Shore. Trotzdem hätte er recht wenig fotografiert, weil er genau wusste, wonach er suchen würde. Die veröffentlichten Bilder sind eine Auswahl, vielleicht ein Viertel dessen, was er insgesamt fotografiert hat. Und noch eine Frage: wie beendet man denn so ein Projekt? Oh, das sei ja gar nicht abgeschlossen. Letzte Woche habe er erst gerade etwas fotografiert. Er könne sich durchaus vorstellen, dass dieses Buch erst der Anfang eines langjährigen Projekts sei.
In einer Widmung auf der letzten Seite des Buches wendet Stephen Shore sich unter anderem direkt an seine Leser, mit einem knappen Wort der Dankbarkeit: das stets bestehende Interesse an seinem Werk sei für ihn keine Selbstverständlichkeit. Als wir ihn im Gespräch darauf ansprechen, lächelt er leicht und erklärt, es sei genau so, wie es dort stehen würde. Die Bescheidenheit des nun 75-jährigen amerikanischen Fotografen, der längst schon einen festen Platz in der Geschichte der Fotografie hat, geht Hand in Hand mit seinem Willen und seiner Fähigkeit, immer fort einen neuen fotografischen Blick anzuwenden.
„Topographies: Aerial Survey of the American Landscape“,
204 Seiten, erschienen bei MACK.
Ein weiteres Corona-Projekt von Stephen Shore waren seine fotografischen Memoiren „Morden Instances“, ebenfalls erschienen bei MACK Books.