Seit den 1960er-Jahren verlassen Land-Art-Künstlerinnen und -Künstler ihre Ateliers, um Kunst und Natur zusammenzubringen. Vor allem die Wüste dient als Leinwand für existentielle Themen. Wir zeigen beeindruckende Landschaftskunst von Kalifornien bis Katar
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16.03.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 208
Keine Landschaft bietet Projektionsflächen wie die Wüste. Ihre Leere ist gefürchtet und geliebt und wird zur Leinwand für brennende Themen, persönliche wie universelle. Diese scheinbare Unbeschriebenheit zog moderne Land-Art-Künstlerinnen und -Künstler an, als sie ab den 1960er-Jahren die Ateliers verließen, Natur und Kunst zusammenbrachten und Menschen dabei Grenzerfahrungen aussetzten. Die Areale, die sie billig erwarben, waren gesegnet mit schönstem Tageslicht und klaren Nachthimmeln, entlegen, weit, öde genug, um existenzielle Gegensätze aufzunehmen: Ordnung und Chaos, Zivilisation und Wildnis, Kosmos und Mikrokosmos. Ihre Kunst dachten sie in unfassbaren Dimensionen. Was im Südwesten der USA begann, lebt heute vor allem auf der Arabischen Halbinsel fort, wo die Mittel, solche Projekte zu finanzieren, reichlich vorhanden sind. So wirft Land-Art erneut Fragen auf.
Ólafur Elíasson, „Shadows Travelling on the Sea of the Day“, 2022
Als Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer in der „Wüste am Ende der Welt“ am Horizont eine immense Gestalt ausmachen, fährt ihnen der Schreck in die Glieder. Aus der Nähe stellt sich die Vision als harmloser Scheinriese heraus. Ein ganz normaler Herr. Bei Ólafur Elíassons Ensemble aus gigantischen Stahlringen und kreisrunden Fiberglasscheiben verhält es sich umgekehrt: Weit entfernt wirkt es wie in der katarischen Wüste zurückgelassenes Kinderspielzeug. Je näher man kommt, umso größer erscheint die Installation: für Riesenbabys also. Schlüpft man schließlich unter die bodenseitig verspiegelten Scheiben und sieht sich durch die Reflexion des sandigen Untergrunds komplett von Wüste umfangen, empfindet man sich als winziger Nobody in der mitleidlosen Landschaft. Andererseits ist der Mensch dort nicht unbedingt allein und rückt mit Besuchern aus verschiedenen Kulturen Sonnenschutz suchend zusammen. Eigentlich ein bewegendes Bild, das der dänisch-isländische Künstler gefunden hat, um den Homo sapiens an seinen Platz in der Natur zu erinnern. Wie viele andere auch unterstützt er Katars ambitioniertes Vorhaben, in die erste Liga der Kunstwelt aufzurücken. Klimakrise, Menschenrechte, Meinungsfreiheit: In Elíassons sozialer Plastik finden diese Themen sicher zusammen.
Walter De Maria, „The Lightning Field“, 1977
Hier kommt die wahre Kunst vom Himmel. Je nach Sonnenstand und Bewölkung verschwinden die 400 spiegelnden Stahlstäbe aus der Wahrnehmung oder erscheinen wie rot glühende Nadeln im Rücken eines Erdriesen. Anders als der Titel „The Lightning Field“ suggeriert, schlagen Blitze selten in die spitz zulaufenden Metallstangen ein. Durch ihre unterschiedliche Länge gleichen sie Geländeunebenheiten aus, um auf einer Linie zu enden, und beschreiben im Abstand von 220 Fuß zueinander ein präzises Geviert von einer Meile mal einem Kilometer. Der Kalifornier Walter De Maria drückt in dieser Ordnung seine Liebe zu Minimalismus und Mathematik aus. Viele Gäste, die, eine rechtzeitige Reservierung vorausgesetzt, 24 Stunden auf diesem Energiefeld in einer einsamen Hochebene New Mexicos verbringen (die Nacht in der benachbarten Schutzhütte), erleben transzendente Naturerfahrungen, die Aufhebung von Raum und Zeit. Erst die Entrücktheit gibt der Land-Art Tiefe, heißt es. Doch abgeschieden wovon? Der Künstler fordert auf, die Perspektive zu wechseln.
James Turrell, „Roden Crater“, 1977
Weithin sichtbar erhebt sich der Roden Crater als traumschöner Schildvulkan sanft aus der Painted-Desert-Landschaft im Norden Arizonas: 400.000 Jahre alt und erloschen. In seinem Inneren verhandelt der kalifornische Künstler James Turrell nichts Geringeres als die Unendlichkeit. Seit 1977 entsteht unter seiner Regie ein abenteuerliches Observatorium aus Schächten, Kammern, Öffnungen, Plattformen. In Wahrnehmungsräumen sollen Himmelsereignisse und Lichterscheinungen – das ist das wirklich Aufregende – physisch erlebbar gemacht werden: Mit dem Körper verstehen, was der Intellekt kennt. Einmal fertiggestellt, vermitteln 24 „Viewing Spaces“ und sechs Tunnel die erhabene Erfahrung kosmischer Unermesslichkeit und zugleich das erdende Gefühl, auf einem Planeten zu stehen. Schon jetzt sind „Ostportal“, „Alpha (Ost) Tunnel“ und „Sonne-Mond-Kammer“ zu einer Camera obscura vereint, in der sich Mondphänomene beobachten lassen. Die auf den Kopf gestellte Projektion ist metaphorisch aufzufassen: Nur über seine inneren Bilder nimmt der Mensch die materielle Welt wahr. Demnächst könnte Turrell sein Meisterwerk weit voranbringen, denn nun greifen auch die Arizona State University und Exzentriker wie Kanye West dem Künstler mit Millionenbeträgen unter die Arme.