Was mich berührt

Die Tage am Strand

Niemand fing den Schaum der Wellen, die Wärme der Sonne und das Funkeln des Meeres so ein wie Joaquín Sorolla. Folge 8 seiner Kolumne „Was mich berührt“ widmet Daniel Schreiber dem spanischen Maler und seinem überschwänglichen Licht

Von Daniel Schreiber
26.05.2023

An manche Ausstellungen erinnern wir uns viele Jahre lang, vielleicht sogar ein ganzes Leben. Doch oft handelt es sich dabei nicht um jene, von denen wir dachten, dass sie bedeutend für uns sein werden. Wie gut sind einem noch die Werke jener Blockbusterschau von vor ein paar Jahren im Gedächtnis, in der man Schulter an Schulter mit Hunderten anderen Besuchenden versuchte, den Blick auf einen Mantegna, einen Cézanne oder einen Pollock zu erhaschen? Ich weiß noch, wie lange ich mich auf eine große Berthe-Morisot-Ausstellung im Musée d’Orsay gefreut habe, nur um durch überfüllte Räume zu stampfen und den Erschütterungen meines Glaubens an die Menschheit nachzuspüren. Danach hatte ich vor allem das unbestimmte Gefühl, etwas verpasst zu haben.

Vielleicht geht es dabei auch um Erwartungshaltungen. Einige meiner nachhaltigsten Kunsterfahrungen habe ich in Ausstellungen gesammelt, auf die ich mich nicht wirklich gefreut habe. Vor ein paar Jahren etwa bekam ich den Auftrag, über eine Joaquín-Sorolla-Schau in der Fundación Mapfre in Madrid zu schreiben. Ich war eigentlich nicht in der psychischen Verfassung für eine Reise, da ich mich inmitten eines Buchprojekts befand, das ich nur ungern unterbrechen wollte. Ich flog trotzdem nach Madrid und verbrachte fast zwei Stunden mit den Bildern Sorollas.

Joaquín Sorolla Autorretrato con fondo de mar
Ein Selbstporträt Joaquín Sorollas, entstanden im Jahr 1909. Sein Todestag jährt sich in diesem Jahr zum 100. Mal. © Fundacion Museo Sorolla

Ich hatte solche Arbeiten noch nie gesehen. Sie schienen auf eine verwirrend direkte Weise mit mir zu kommunizieren. Die Garten-, Meer- und Landschaftsbilder des Malers steckten voll ungeahnter narrativer, poetischer und emotionaler Nuancen. Besonders seine funkelnden Strandszenen und ihre Figuren in gleißendem Weiß hatten etwas Hypnotisches. Ohne sagen zu können, warum, ließen sie mich nicht mehr los.

Zu meiner Schande hatte ich zuvor noch nie etwas von Joaquín Sorolla-y-Bastida gehört. In seinem Heimatland gehört der 1863 in Valencia geborene Maler zu den wichtigsten Künstlerinnen und Künstler überhaupt, er gilt als jemand, der das Erbe der spanischen Malerei, das Erbe von El Greco, Velázquez und Goya in gerader Linie fortführt. Ein ganzes Museum in Madrid ist ihm gewidmet, und selbst der Prado verfügt über einen Saal, der ausschließlich seine Werke zeigt. Auch in den USA verfügen viele Sammlungen größerer Museen über Sorollas, das Metropolitan Museum of Art etwa, das Art Institute of Chicago oder die New Yorker Hispanic Society. Im Rest Europas hingegen geriet der Maler nach seinem Tod 1923 immer mehr in Vergessenheit.

Joaquín Sorolla Clotilde en la cala de San Vincente
1888 heiratete der Künstler Clotilde García del Castillo, die seine große Muse werden sollte. 1919 malte er sie in der Bucht von San Vicente. © Fundacion Museo Sorolla

In gewisser Hinsicht wurde Sorolla Opfer einer sich wandelnden Kunstgeschichtsschreibung. Seine Arbeiten waren ausdrücklich nicht modern. Sie wirkten, als seien sie in einem anti-avantgardistischen Naturalismus gefangen, der malerisch zwar beeindruckend ist, aber irgendwie aus der Zeit gefallen schien. Wie andere Malende, die auf den internationalen Ausstellungen und Wettbewerben um die Jahrhundertwende noch überwältigende Erfolge bei der Kritik gefeiert und immer wieder Besucherrekorde aufgestellt hatten – Anders Zorn etwa, John Singer Sargent, James Tissot oder James McNeill Whistler – wurde er zunehmend auf die Rolle eines Repräsentanten des späten, großbürgerlichen 19. Jahrhunderts reduziert.

Auch in mir machte sich zunächst ein gewisser Widerstand bemerkbar, als ich die ersten Bilder Sorollas sah. Die Ausstellung erschloss sein Vermächtnis chronologisch und vor allem der soziale Realismus seines Frühwerks irritierte mich. In den Bildern der „einfachen Menschen“ seiner Zeit war eine merkwürdige Ästhetisierung augenfällig, die ich nicht einordnen konnte. Beseelt nähten Frauen, umgeben von Weinranken und Kletterrosen, am Segel eines Bootes. Alternde Fischer zogen ihre Boote nach getaner Arbeit in der orangenen Abendsonne an den Strand. 

Joaquín Sorolla La hora del baño
Leichtigkeit des Sommers: „La hora del baño“, 1909. Zu sehen aktuell in der Ausstellung „En el mar de Sorolla con Manuel Vincent“ im Madrider Museo Sorolla. © Fundacion Museo Sorolla

Sorollas bekannte „Otra Margarita“ von 1893 – eines von vier Gemälden, die er zur Weltausstellung in Chicago schickte, wo es eine Ehrenmedaille gewann und den Grundstein für seinen Ruhm in den Vereinigten Staaten legte – zeigte eine junge, von zwei bewaffneten Polizisten bewachte schöne Frau, eine Kindsmörderin, in einem Eisenbahnwaggon. Es war kein rundum gutes, aber ein beeindruckendes Bild. Nicht wegen des inhärenten Dramas, sondern wegen der dazu geradezu im Kontrast stehenden altmeisterlichen Könnerschaft: Jeder Pinselstrich saß, jeder noch so subtile Lichtreflex brillierte, jede Farbnuance stimmte. Die Arbeit zeichnete sich nicht durch kühlen Realismus aus, sondern durch einen warmen, fast schon von innen leuchtenden Glamour.

Ohne viel über Sorolla zu wissen, hatte ich den Eindruck, dass sich hier ein bourgeoiser Patriarch einer merkwürdig sexualisierten Sozialromantik hingegeben hatte. Doch der Eindruck täuschte. Vielmehr hatte der Maler seinen Blick auf ein Herkunftsmilieu verewigt, dem er entflohen war. Von einem Waisenkind, das in einfachen Verhältnissen bei Verwandten in Valencia aufwuchs, hatte er sich mit Stipendien in Rom und Madrid in die erste Riege der europäischen Künstlerinnen und Künstler hochgearbeitet.

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