Spiegel bieten mehr als den Blick auf sich selbst. Klug platziert, erzeugen sie Licht- und Raumspiele und bilden einen quasi unendlichen Hintergrund für Bilder. Unsere Stilkolumne gibt Tipps für ein kunstvolles Heim. Folge 17: spiegelverkehrt und richtig
ShareDer Spiegel hat einen janusköpfigen Ruf: Er reflektiert die Todsünde der Wollust, steht für Eitelkeit, dummen Aberglauben und missgünstige, zweitschönste Stiefmütter. Überhaupt gilt er als Seelenfänger (wenn man als Wollüstiger und Eitler überhaupt noch eine hat). Vielen wurde der Spiegel daher zum Verhängnis: Narziss sein eigenens Spiegelbild, Rita Hayworth im Filmklassiker „The Lady from Shanghai“ das ihres Mannes oder Franz Josef Strauß 1962 das gleichnamige Nachrichtenmagazin. Kate Moss machte sich den Spiegel einst als Unterlage fürs Kokain zunutze – die Tageszeitung „The Mirror“ die dabei entstandenen Fotos.
Laut dem Feng-Shui sollte man ja auch auf Spiegel in allerlei wichtigen Zimmern verzichten. Kein Spiegel im Eingangsbereich (Hallo? Hat es gerade geklopft!?), keiner im Treppenhaus (Fürchten auch sie den M.-C.-Escher-Effekt?), keiner im Kinderzimmer (ja, gut, Kinder begreifen Spiegel ohnehin erst im dritten Lebensjahr), keiner in der Küche (Ich dachte, wir hätten doppelt so viel Wein vorrätig?!) und keiner im Schlafzimmer (Wer sind diese Menschen!?). In jüngster Zeit und zwar genau seit 2007, ist der Spiegel im Alltag glücklicherweise von all dieser Diskriminierung befreit. Dieses ganze Seelen-, Spiritismus- und Selbstverliebtheitsding bedient ein anderer Gegenstand. Die böse Stiefmutter von heute schaut in ihr Smartphone und lässt Apps sprechen: „Siri, Siri in der Hand, gib mir den besten Filter bekannt!“
Halbwegs befreit also von der Vanitas-Funktion, kann der Spiegel wieder ohne falsche Bescheidenheit Raum schaffen oder verunklaren, Licht maximieren und Dinge verstecken oder verdoppeln. Man sagt auch, Räume seien das Spiegelbild ihrer Bewohner. Was passiert nun, wenn der Bewohner sich im Spiegel sieht? Er erschrickt, weil er mit der ungefilterten Wirklichkeit konfrontiert wird. (Schlimmer ist nur, wenn Sie niemanden sehen, dann bringen Sie sich vor Sonnenaufgang in Sicherheit!). Poetisch aufregend wird es, wenn man die Realität wie „Alice hinter den Spiegeln“ lässt. Sehen wir also den Spiegel als Retter. Perseus hatte das doch auch schon verstanden und die Medusa mit einem Spiegel besiegt.
Schluss aber nun mit den bildungsbürgerlichen Kalauern, kommen wir zum Ratgeberteil. Wenn also Räume zu schwach oder zu stark werden, empfehlen wir den großflächigen Einsatz von Spiegeln. Wo sich die Dinge des Lebens ansammeln, also in Wohnungen von Menschen, die nicht in Magazinen leben, wo es mit der Zeit ein bisschen zu biedermeierlich oder trutschig geworden ist, wird es mit Spiegeln auf der Stelle souveräner und cooler. Was zu starr ist, wird gebrochen. Dabei muss es bei Spiegelwänden nicht um das eigentliche Abbild des Raumes gehen. Sie ergeben den unendlichen und immer kontrastreichen Hintergrund für Bilder, die man darauf hängt— oder für die Nachricht am Morgen danach. Über Türen und in Fensterlaibungen ergeben Spiegel schöne Licht- und Raumspiele. Vor Kurzem besuchten wir einen Freund in England, der in dem kleinen Badezimmer bei sich zu Hause aus Platzmangel das Waschbecken vor dem Fenster installiert und einfach den unteren Teil des dort üblichen Schiebefensters verspiegelt hatte. So hat man die Chance sich einfach wegzuschieben und in den Garten zu schauen beim Zähneputzen. Übrigens funktioniert der Spiegel auch als Statthalter für Kunst: Jeder Spiegel ist besser als ein doofes Bild.
Aber Vorsicht: Zu viele Spiegel sorgen für Realitätsverlust. Donald Trumps New Yorker Apartment hat das bewiesen und das Bedeutungspotenzial des Wortes „spiegelverkehrt“ verdoppelt. Ebenfalls in New York verlor der Designer Halston sich selbst in seinen vollverspiegelten Olympic-Tower-Büros. In dieser Stadt wird aber auch deutlich, dass der Spiegel nicht nur im Inneren, sondern auch als Fassaden- und Fensterfläche Licht ins Dunkel trägt. Wahrscheinlich war Dan Graham deshalb ein so typischer New Yorker Zauberer. Überhaupt ist der Spiegeltrick einer der beliebtesten unter Künstlern: Jan van Eyck, Parmigianino, Velázquez, Vermeer, Germaine Krull, Yayoi Kusama, Art & Language, Anish Kapoor, Cindy Sherman, Karl Holmqvist. Wer allerdings die wichtigste, seit über hundert Jahren oft kopierte, immer erreichte und tausendfach janusköpfige Skulptur erschaffen hat, das wissen wir nicht. Der Ursprung der Discokugel („Mirror Ball“) bleibt uns unbekannt.