Die Filipina Apo Whang-Od ist mit 106 Jahren ein Superstar – und zierte kürzlich als Covergirl die „Vogue“. In ihrer Heimat hält sie eine uralte Tätowierkunst am Leben und lockt damit Besucher aus aller Welt. Den meisten geht es um die spezielle Signatur der alten Dame
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26.06.2023
Wahre Schönheit kennt kein Alter. Dafür ist Maria Oggay, besser bekannt unter dem Spitznamen Apo Whang-Od, der beste Beweis. Auf einem alten Jutesack sitzend klopft sie auf den Philippinen einer jungen Frau konzentriert ihr „signature tattoo“ in die Haut. Mit 106 Jahren trägt die zierliche Frau eine kunterbunte Hose, Blumenohrringe und einen Strickhut mit Sonnenblumen. An Händen und Füßen sind Reste von rotem Nagellack zu sehen. Ihr Körper ist mit Tätowierungen bedeckt – mit Symbolen ihres Kalinga-Stammes. Und wenn Whang-Od lächelt, dann strahlt sie jene unvergängliche Art von Schönheit aus, die mit Makellosigkeit nichts zu tun hat.
Das wussten auch die Herausgeber der philippinischen „Vogue“, als sie Whang-Od im April zum ältesten Covergirl aller Zeiten machten. Die Ausgabe sorgte weltweit für Schlagzeilen. Mit dunkelrot geschminkten Lippen und Kopfreif im langen Haar schaut die Greisin tiefgründig in die Kamera – und offenbart die geheimnisvollen Tattoos an ihren Armen, ihren Händen und im Dekolleté. „Das ist echte Schönheit“, twitterte Oscar-Preisträgerin Halle Berry bewundernd.
Whang-Od selbst ist der Hype um ihre Bilder dagegen fast unangenehm: „Ich freue mich, dass meine Fotos von vielen Menschen an verschiedenen Orten gesehen werden können“, sagt sie und lächelt verschmitzt: „Aber es ist mir auch etwas peinlich, wenn ich daran denke, dass sie sich ein so hässliches Gesicht ansehen!“
Zu Berühmtheit ist Whang-Od aber schon früher gekommen: 2009 wurde sie vom Discovery Channel für die Serie „Tattoo Hunter“ gefilmt. Mittlerweile gibt es zahlreiche Dokus über ihr Leben und ihre Kunst. Auch in dem aufwendigen Bildband „Kalinga Tattoo“ des amerikanischen Anthropologen Lars Krutak ist Whang-Od eine Protagonistin.
Die Folge: Tätowierte sie einst tollkühne Kopfjäger vom Stamm der Butbut, reisen heute trendige Großstädter an, um sich von der legendären Mambabatok (Tätowiermeisterin) die Haut verzieren zu lassen. Und zwar nicht mit einer Nadel, sondern – noch schmerzhafter – mit einem Bambusstock, an dem ein Dorn eines Zitronenbaums befestigt ist. Die Farbe ist ein Gemisch aus Kohle und Wasser.
Wer zu Whang-Od will, der hat eine beschwerliche Reise vor sich. Von der Hauptstadt Manila geht es in zwölf Autostunden über neblige Zickzackstraßen in Richtung Norden. Das Dorf Buscalan mit etwa 1000 Einwohnern liegt auf einem Bergrücken im Cordillera-Gebirge. Wenn es per Auto nicht mehr weitergeht, wartet noch ein einstündiger Fußmarsch. Entlohnt werden die Besucher mit atemberaubenden Ausblicken auf Reis-Terrassen und wild bewachsene Berge. Dann endlich taucht ein Schild auf: „Welcome! Whang-Od Buscalan Tattoo Village.“
Und da ist sie, die kleine Dame mit dem großen Erfahrungsschatz, von dem ihre Haut die dazugehörigen Geschichten erzählt. Geometrische und figurative Muster zieren den schmalen Körper, markieren wichtige Momente in ihrem Leben, berichten von Erfolgen, Leiden und einstigen Liebhabern. Besonders mit letzteren seien «gute Erinnerungen» verbunden, erzählt sie in ihrem lokalen Dialekt. Tattoos seien wichtig, um all diese Erlebnisse zu bewahren: „Wenn Du stirbst, werden alle Halsketten und Ohrringe verschwinden, aber das Tattoo bleibt. Das ist Deine Geschichte. Das Tattoo ist meine Geschichte.“
Lange galt Whang-Od als die letzte Kalinga-Mambabatok, denn sie ist unverheiratet und hat keine Kinder, denen sie ihr Handwerk beibringen konnte. Die Tätowierkunst darf bei den Kalinga nur an Blutsverwandte weitervermittelt werden. Aber ab 2007 begann sie, ihre Großnichten Grace und Elyang auszubilden, um die Tradition am Leben zu erhalten. Die beiden seien mittlerweile selbst erfolgreiche Tätowiererinnen, sagt sie stolz. „Ohne die Tattoos würden sie hart auf den Feldern arbeiten, um über die Runden zu kommen.“
Die Meisterin selbst tätowiert derweil keine aufwendigen Symbole mehr – alle Besucher bekommen von ihr einheitlich ihr „signature tattoo“ in die Haut geklopft: drei Punkte. Sie stehen für Whang-Od und ihre beiden Großnichten, die ihr Vermächtnis repräsentieren.
Tak, tak, tak. Rhythmisch und schnell treibt die Meisterin den schwarz eingefärbten Dorn mit einem zweiten Stock immer wieder in die Haut. Die, die die Prozedur über sich ergehen ließen, berichten von starken Schmerzen. Aus den drei Punkten blutet es zeitweilig, und Whang-Od trocknet die Wunden mit Feuchttüchern.
„Ich bin stolz, dass ich jetzt das Zeichen von Whang-Od trage“, sagt die 45-jährige Tina Rose Gado, die mit sechs Freunden aus Kanada angereist ist und die drei Punkte am linken Handgelenk trägt. Jade Kuehnl (26) aus Großbritannien hat sich hingegen für den Knöchel entschieden. Schon seit Jahren wollte sie Whang-Od treffen, nun macht sie den Traum zusammen mit einer Freundin aus den USA wahr. „Ich habe jetzt irgendwie das Gefühl, Teil von etwas zu sein“, sagt sie und blickt glücklich auf die kleinen Punkte über ihrem Fuß.
So groß ist der Hype um die betagte Dame, dass ihr Antlitz mittlerweile auf Souvenirs wie Kaffeetassen, Schlüsselanhängern, Kühlschrank-Magneten und T-Shirts verewigt ist. Whang-Od ist zu einer Marke geworden, etwas zum Unmut der Namensträgerin. „Warum müssen sie nur überall meine Fotos drauf drucken?“, fragt sie lachend, während sie Taroblätter für das Frühstück vorbereitet.
Für das Dorf Buscalan ist Whang-Ods Bekanntheit aber eine lukrative Einnahmequelle. So arbeiten viele Einwohner mittlerweile als Reiseleiter, andere bieten ihre Häuser als Unterkünfte an. Noch immer gibt es zwar keine Telefonleitung, aber zumindest einige Wifi-Hotspots, die den Ort nun mit dem Rest der Welt verbinden.
Whang-Od ist sich bewusst, dass ihr Leben langsam zu Ende geht. Einen Ort für ihr Grab hat sie sich bereits ausgesucht, in der Nähe ihres Hauses. Aber noch arbeitet sie weiter jeden Tag und empfängt Gäste aus allen Teilen der Welt. „Solange ich gesund bin und meine Augen gut sind, werde ich weiter tätowieren“, sagt sie. „Und wenn ich sterbe, dann sterbe ich.“ Ihre Hoffnung ist, dass die Kalinga-Kultur dank ihrer Großnichten auch danach nicht in Vergessenheit gerät. (dpa)