Schon lange beschäftigt ein mittelalterliches Buch die Forschenden: Sind seine bis heute unbekannte Sprache und feinen Zeichnungen reine Fiktion oder nur noch nicht entschlüsselt? Folge 10 seiner Kolumne widmet Daniel Schreiber dem Voynich-Manuskript und der Faszination des Rätsels
ShareSchon als Kind wollte ich, dass der Sommer nie zu Ende geht. Die Tage sind so lang, man scheint sich nur von Beeren und etwas Wassermelone zu ernähren, liest dicke Romane am Strand oder auf der Terrasse, kann einfach so in einen See springen. Der derzeitige Sommer ist da keine Ausnahme. Trotz eines anstrengenden Arbeitspensums, trotz der bedrohlichen Lage der Welt fällt es mir so leicht wie schon lange nicht mehr, meinem inneren Wunsch nach Eskapismus zu folgen. Ich habe kein schlechtes Gewissen, wenn ich seichte Fernsehserie schaue, einen Unterhaltungsroman lesen oder einen der lauen Abende einfach so mit Freundinnen und Freunden verbummele. Ich glaube, mein Leben zeichnet sich gerade durch etwas aus, das man im Englischen summer brain nennt: eine gewisse mentale Trägheit, die sich zumindest zeitweise genießen lässt.
Dieses summer brain kann für skurrile Blüten sorgen. Vor ein paar Jahren erfasste mich eine unerklärliche Obsession mit der „All Souls“-Trilogie der renommierten Historikerin Deborah Harkness, einem dreibändigen, sehr gut gemachten, aber eben auch völlig absurden Schinken, in dem es um Hexen, Vampire und Dämonen geht. Aus irgendeinem Grund nahm mich das Buch so gefangen, dass ich auch über die darin erwähnten realen mittelalterlichen Manuskripte alles wissen wollte und von dort aus gleich in die nächste träge Summer-Brain-Obsession taumelte. Bei einem der Handschriften aus den Harkness-Romanen handelte es sich um das sogenannte Voynich-Manuskript. Und als ich die detailgetreuen Bilder der Faksimile-Ausgabe sah, die der Verlag der Yale University, der heutigen Besitzerin des Manuskripts, herausgibt, wollte es mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Die rätselhafte Geschichte dieses Manuskripts nahm im August 1665 ihren Anfang. Damals ließ der Prager Arzt Johannes Marcus Marci seinem langjährigen Freund, dem jesuitischen Universalgelehrten Athanasius Kircher, ein rätselhaftes Buch zukommen, das er vom Alchemisten Georg Baresch geerbt hatte. Es schien in unbekannten, magischen Chiffren geschrieben worden zu sein und war mit Zeichnungen exotischer Pflanzen und unbekannter Sternenbilder illustriert. Kircher, der am Collegium Romanum in Rom lehrte, war der richtige Adressat für das Manuskript. Er wurde in ganz Europa dafür gefeiert, dass er die ägyptischen Hieroglyphen entziffert hatte, was sich erst 150 Jahre später als Irrtum herausstellen sollte. Der Brief, den Marci dem Band beilegte, ist heute noch erhalten. In feinem, leserlichem Latein steht dort geschrieben, dass es sich um ein Werk des berühmten Alchemisten Roger Bacon handele. Auch Bacon, die große Geisteslegende des 13. Jahrhunderts, habe einige seiner Manuskripte aus Angst vor kirchlicher Verfolgung in einer Geheimschrift verfasst. Doch niemand könne die Chiffren dieses Buchs entschlüsseln, schrieb Marci, daher bitte er Kircher um Hilfe.
Mittelalterliche Manuskripte sind wie Filmstars. Sie umgibt immer ein Geheimnis. Man weiß selten genau, woher sie kommen, und noch seltener kann man sie, im Gegensatz zu bedeutenden Gemälden, im Original sehen, da sie in der Regel zu wertvoll und fragil sind, um ausgestellt zu werden. Doch vom Manuskript, das Marci vor über 350 Jahren an Kircher schickte und das heute nach seinem neuzeitlichen Entdecker, dem russisch-britischen Antiquar und Inkunabeln-Händler Wilfrid Michael Voynich „Voynich Manuskript“ genannt wird, geht ein besonderes Enigma aus.
Es ist das wahrscheinlich mysteriöseste Artefakt des Mittelalters. Seit über hundert Jahren versuchen moderne Forschende, die Geheimschrift des Manuskripts zu entschlüsseln und dem Sinn der geradezu dadaistisch anmutenden Bilder von Pflanzen, badenden Frauen und kosmischen Konstellationen auf die Spur zu kommen. Doch alle regelmäßig ausgerufenen Behauptungen, dass dies gelungen sei, entpuppen sich genauso regelmäßig als Irrtümer wie Kirchers Glaube, die Hieroglyphen entschlüsselt zu haben.
Im Faksimile der Yale University kann man sich davon überzeugen, mit welchem Erfindungsreichtum, mit welchem handwerklichen Geschick und ästhetischen Gespür die Verfasserin oder der Verfasser des 234-seitigen Manuskripts vorgegangen ist. Schwer zu bestimmende botanische Illustrationen finden sich auch in anderen mittelalterlichen Manuskripten. Doch die hunderte von Pflanzen und Pflanzenteilen, die im Voynich-Manuskript dargestellt werden, würde man in jedem Klostergarten vergeblich suchen. Einige der mit Cinnabarit, Azurit-Pigmenten und Kupferacetaten kolorierten Zeichnungen rufen zwar entfernt die Blüten von Disteln, Passionsblumen oder Seerosen in Erinnerung, aber nur um sie mit den Blättern, Ranken und Rhizomen artfremder Gattungen zu kombinieren. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky nahm an, dass einige der Zeichnungen Pflanzen aus der Neuen Welt darstellten, Sonnenblumen etwa oder spanischen Pfeffer. Andere Forschende vermuteten daraufhin gar eine Herkunft des Manuskripts aus dem präkolumbianischen Mittelamerika. Beide Vermutungen hielten Überprüfungen nicht stand. Bei den Zeichnungen dürfte es sich um nichts als um fantasievolle Abstraktionen handeln, um frei und lustvoll erfundene Kunstpflanzen, die als Pflanzen erkennbar sind, jedoch nicht der Natur nachempfunden wurden.
Gleiches gilt für die pharmazeutische Sektion des Buches, die augenscheinlich Rezepte für den Gebrauch dieser fantastischen Pflanzen aufführt. Auch die kosmologischen Abschnitte des Buches, die auf teilweise ausfaltbaren Bögen detaillierte Sternenkonstellationen darstellen, sind weitgehend erfunden. Und die anatomischen Zeichnungen von Frauen in durch obskure Röhrensysteme miteinander verbundenen Bädern lassen an alchemistische Bäderallegorien denken, können im Gegensatz zu ihren Vorbildern allerdings auch von Mittelalterexperten nicht enträtselt werden. Nichts erscheint auch nur die entfernteste Art von Sinn zu ergeben. Wer hat sich so etwas ausgedacht? Warum hat jemand diese elaborierten Fantasien zu Papier gebracht?
Marci berichtet in seinem Brief an Kircher, dass das Buch ursprünglich aus der Bibliothek des alchemiebegeisterten Rudolf II. stammte. Der habsburgische Kaiser hatte es sich ganze 600 Golddukaten kosten lassen, selbst für eine Zeit, in der Bücher extrem teuer waren, ein erstaunlicher Betrag mit einer heutigen Kaufkraft von schätzungsweise 230.000 Euro. Von vorherigen Besitzenden weiß man nichts. Lange glaubte man Marcis Behauptung, dass das Werk aus der Feder von Roger Bacon stamme. An erster Stelle Wilfrid Voynich, der ein kleines Vermögen mit dem Manuskript machte. Es war Teil eines vernachlässigten Konvoluts, das er 1912 dem Jesuitenorden in Rom abkaufte.