Mit Taucherbrille, Kamera und Handblitz ausgerüstet ging der amerikanische Fotograf Larry Sultan Ende der Siebzigerjahre unter Wasser. So entstanden in den öffentlichen Badeanstalten von San Francisco Bilder von verstörender Poesie
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27.07.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 216
Beim Betrachten der Bilderserie „Swimmers“ fühlt man sich, als trage man zum ersten Mal eine Taucherbrille. So sieht es also aus, wenn ein Wasserbecken von strampelnden und tauchenden Menschen gefüllt ist: ein lustiges Chaos aus aufeinandertreffenden Körpern, blau leuchtendes Wasser, bunte Badeanzüge und Schwimmhilfen. Die reine Fröhlichkeit verströmen die Bilder allerdings nicht. Es herrscht eine gewisse Unruhe. Wie die Menschen sich im Wasser bewegen, hat etwas Unbeholfenes, es wirkt ungelenk, bisweilen geradezu komisch. Die Gesichter, wenn sie überhaupt zu sehen sind, lassen Anstrengung erkennen. Die Menschen sind offensichtlich nicht in ihrem Element. Das Geschehen unter Wasser sieht surreal, unheimlich, ja sogar bedrohlich aus. Es ist eine eigene Welt mit gedämpfter Stimmung und anderen physikalischen Gegebenheiten. Durch die Spiegelung der Wasseroberfläche, die oftmals das Bild zu entzweien scheint, entstehen zudem optische Spiele und Verzerrungen, die an Francis Bacons malerische Effekte denken lassen und das Sichtbare uneindeutig verfremden.
Bei einer Veranstaltung am San Francisco Art Institute, an dem Larry Sultan einst Student und später selbst Professor war, berichtete er 1980 von seinem damals aktuellen Unterwasserprojekt. Dabei beschrieb er, dass in seiner Faszination mit dem Wasser als fotografischem Motiv auch eine düstere Komponente mitschwingt. Geboren 1946 in New York, war er als Kind mit seinen Eltern in einen Vorort von Los Angeles gezogen, wo er in der Nähe eines öffentlichen Schwimmbades aufwuchs. Von klein auf hatte er Angst vor tiefem Wasser – und dann wäre er als zwölfjähriger Junge einmal fast im Meer ertrunken.
Diese traumatische Erfahrung mag dazu beigetragen haben, dass Sultan sich auf seine Weise mit dem Schwimmenlernen beschäftigt hat. Ein Handbuch des amerikanischen Roten Kreuzes, das Grundzüge des Schwimmens erläuterte, brachte ihn auf die Idee, den Unterricht ausschließlich unter Wasser aufzunehmen. Als Inspirationsquelle erwähnte Sultan außerdem einen Kurzfilm aus den Dreißigerjahren, den der französische Regisseur Jean Vigo über den damaligen Olympiasieger Jean Taris drehte. Dieser künstlerisch hochaufwendig produzierte Film verfolgte auch einen pädagogischen Ansatz: mithilfe von Unterwasseraufnahmen sollte Taris seine furiose Schwimmtechnik zur Nachahmung präsentieren.
Mit der Nikonos III, einer Unterwasserkamera, die damals neu auf dem Markt war, besuchte Larry Sultan über eine Zeitspanne von vier Jahren regelmäßig verschiedene Schwimmbäder. Die Menschen, die er fotografierte, sind allerdings keine Olympioniken. Für seine Arbeit konzentrierte er sich auf Schwimmkurse an einem Regenerationszentrum für Menschen mit Behinderung. Sultan beobachtete dort verschiedene Therapieübungen und hielt sie mit Sympathie und Anteilnahme fest. Dass er sich als Fotograf in derselben Situation befand wie die Menschen, die er fotografierte, im Wasser einem gewissen Kontrollverlust ausgesetzt, erlebte er wie eine Form von Katharsis.
Bis jetzt waren die Bilder nur vereinzelt in Ausstellungen zu sehen. Nun erscheinen sie zum ersten Mal in einem Bildband bei Mack. Seine „Swimmers“ sind auch als Methode zu begreifen, wie Larry Sultan sich seinen eigenen Ängsten stellte. Bekannt war er bisher vor allem für zwei fotografische Projekte, die die US-amerikanische Gesellschaft empathisch sezieren. In „Pictures from Home“ porträtierte er seine Eltern in ihrer privaten Umgebung in Südkalifornien. „The Valley“ dagegen ist eine Serie von Aufnahmen, die er im Auftrag des Männermagazins Maxim am Set von Pornofilmen machte.
Mit seinem Schwimmbadprojekt knüpft er allerdings auch an sein noch weiter zurückliegendes konzeptuelles Fotobuch „Evidence“ an. Gemeinsam mit dem Künstler Mike Mandel hatte er dafür aus staatlichen und privaten Archiven wissenschaftliche Fotodokumentationen ausgewählt und sie ohne jegliche Information zum Hintergrund der Aufnahmen veröffentlicht. Mangels Bildunterschrift sind die dargestellten Situationen für den Betrachter vollkommen rätselhaft. Die Idee zu „Swimmers“, so Larry Sultan, hatte er noch vor der Arbeit an „Evidence“, doch verwirklichte er sie erst Jahre später. In der Wirkung weisen die beiden Serien gewisse Parallelen auf. Unter Wasser konnte er Bildmotive finden, die ebenfalls enigmatisch und dadurch überraschend sind, fast wie anonyme Laborbilder.
In einem Interview aus dem Jahr 2008, ein Jahr vor seinem Tod, sprach Larry Sultan von einer Schwierigkeit, die er als Fotograf stets bewältigen musste: Jedes Motiv ist mittlerweile schon so oft dargestellt worden. Die Herausforderung und der Anspruch bestehen darin, einen neuen, eigenen Blickwinkel auf die Dinge zu finden. Das gilt auch für die „Swimmers“. Larry Sultan hatte sich damit ein Motiv ausgesucht, das in der Kunst der Sixties und Seventies einen Durchbruch hatte, den Pool. In seiner Auseinandersetzung ist es ihm gelungen, dem Schwimmbad eine eigene Perspektive abzugewinnen. Die berühmten Poolbilder von David Hockney zeigen eine komplett andere Welt, Luxus, Hedonismus und individuelles Glück. Bei Larry Sultan dagegen ist das Schwimmen ein gemeinschaftliches, demokratisches Erlebnis, das erfordert, die eigenen Unsicherheiten zu zeigen, um gemeinsam daran zu wachsen.
„Larry Sultan. Swimmers“,
Mack Books, 2023,
144 S., 60 Euro