Seit Aufkündigung des Getreideabkommens bombardiert Russland intensiv die Hafenstadt Odessa. Viele Baudenkmäler der als Welterbe eingestuften Altstadt wurden schwer beschädigt. Wir sprachen mit der Journalistin Karina Beigelzimer über die Lage vor Ort
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25.07.2023
Oi (seufzt). Ich habe sieben Nächte nicht mehr geschlafen, weil es sehr heftige Angriffe gibt. Nicht nur Angriffe auf die Hafen-Infrastruktur, sondern auch auf die Kultureinrichtungen. Und das alles macht uns sehr traurig, sehr erschöpft, sehr böse. Es ist sehr schwer, das alles zu verkraften, aber es geht.
Die vergangene Woche war eine Zeit des Schreckens, eine Zeit der Angst und Verzweiflung. Die Nächte waren von Schlaflosigkeit geprägt. Es gab jede Nacht Raketenangriffe auf die Stadt, nicht nur Raketen, sondern auch Drohnen. Die Liste der Beschädigungen, der Zerstörungen ist sehr, sehr lang. Im Stadtzentrum gibt es sehr viele Architekturdenkmäler, und jetzt ist sie einfach von Trauer und Verwüstung gezeichnet, von einem Gefühl der Melancholie. Denn man kann jetzt überall die Dimension des Krieges sehen, überall dort, wo die Raketen und Drohnen durchgebrochen sind. Dazu gehört die Verklärungskathedrale, die größte orthodoxe Kirche der Stadt, einige Museen …
Das Literaturmuseum, außerdem Schulen, Kindergärten, zwei Konsulate, sogar der Friedhof. Die Schäden sind unterschiedlich schwer. Diese Orte sind alle jetzt mit Narben bedeckt. Die Verklärungskathedrale steht im Herzen von Odessa. Ihre Geschichte war zunächst sehr traurig und reicht weit zurück. Sie wurde im 19. Jahrhundert errichtet und geweiht und dann 1936 völlig zerstört …
Ja. Ich kann mich erinnern, wie ich als ein kleines Kind oft auf dem Domplatz spielte. Es war einfach nur ein Spielplatz für Kinder, für Leute, die Schach spielen, nichts Besonderes. In den 2000er-Jahren gab es dann Spendenaktionen für den Wiederaufbau. Ich hatte damals das Gefühl, die ganze Stadt will diese Kirche zurückbekommen. 2010 wurde sie dann feierlich eingeweiht. Und Sie können sich nicht vorstellen, wie schön sie ist. Beeindruckend. Dieses architektonische Meisterwerk erstrahlte wieder in seinem vollen Glanz. Nicht nur Gläubige, auch Kunstliebhaber aus aller Welt kamen, um sich das anzusehen.
Ja, wir haben so gehofft, dass dem Zentrum der Stadt nichts passiert. (seufzt) Dieser Angriff hat den Altar der Verklärungskathedrale beschädigt, er ist richtig herausgebrochen, auch die Fassade stürzte teilweise ein. Einige Ikonen konnten zum Glück gerettet werden. Zum Beispiel die der Gottesmutter Kasperowskaja, die Schutzpatronin der Stadt. Ich war heute vor Ort, man weiß gerade nicht, ob man das Gebäude rekonstruieren kann und wie lange das dauert, das wird eine Kommission entscheiden. In den letzten Tagen wurden 25 Architekturdenkmäler unterschiedlich schwer beschädigt, darunter auch das Haus der Wissenschaftler, auch ein wichtiges Kulturdenkmal. Dieses Haus der Wissenschaftler befindet sich im Palast des Grafen Tolstoi, es ist ein sehr schönes Gebäude. Dort wurden unter anderem Glasmalereien zerstört.
Sie wurden natürlich erst mal herausgeschafft, es hat ja auch gebrannt. Ich war gestern vor Ort und habe Tausende Leute gesehen, die gekommen sind, um zu helfen, die Trümmer aufzuräumen, die Scherben aufzusammeln. Viele haben geweint, weil die Kathedrale für sie ein Ort der Hoffnung war. Wissen Sie, seit der Krieg begonnen hat, sind viele dort hingegangen, um irgendwie Ruhe zu finden, Gebete zu sprechen.
Das ist unmöglich. Wir haben eigentliche eine gute Flugabwehr, aber jetzt schicken sie Onyx-Raketen und CH-22-Raketen, die kann man nur sehr schwer abfangen. Gegen diese Raketen helfen auch keine Sandsäcke. Natürlich kann man zum Beispiel Exponate aus Museen in Bunker bringen.
Ja, das war am Anfang dieses Krieges. Aber vor ein paar Monaten hat bei uns wieder ein kulturelles Leben begonnen. Es wurde zum Beispiel ein neues und großes Kulturzentrum eröffnet. Auch ins Theater kann man jetzt wieder gehen. Konzerte finden statt, weil wir ein bisschen gedacht haben, es gibt immer mal wieder Angriffe, aber nicht so oft und nicht so intensiv. Aber was wir in der letzten Woche erlebt haben, das war ein Horror, Tag und Nacht. Und es ist kein Ende in Sicht. Wir wissen nicht mehr, ob wir am nächsten Morgen noch aufwachen werden. Ich erkläre Ihnen das Problem: Der Hafen grenzt an das Stadtzentrum, er ist ganz nahe. Wenn sie den Hafen bombardieren, dann bombardieren sie auch die Stadt.
(lacht traurig) Verstehen Sie, ich bin am 24. Februar hier geblieben, und ich bin auch hier geblieben, als wir einen schrecklichen Winter hatten. Ich bin Lehrerin und Journalistin, ich spreche viele Sprachen, ich kann den Leuten hier helfen. Ich kann nicht gehen. Natürlich habe ich oft daran gedacht. Es ist normal, dass jeder Mensch daran denkt. Bei mir steht der Koffer seit dem 24. Februar bereit. Natürlich fragen wir uns, ob wir überhaupt am nächsten Tag noch leben. Man lebt schneller. Man verschiebt nichts auf den nächsten Tag. Aber es ist ein Paradox. Einerseits leben wir schneller, andererseits haben wir das Gefühl, wir sitzen im vollen Wartezimmer des Lebens. Weil wir nichts planen können.