Wenn eine Stadt viele Freiheiten bietet, braucht es Menschen, die sie nutzen: ein Gespräch mit dem Team hinter dem Atomino – dem berühmtesten Club von Chemnitz, der bald in neuen Räumen eröffnet
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09.08.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 215
Er war gutmütig und immer bereit, seine Energie zu teilen. Atomino, der nuklearbetriebene Comic-Roboter aus der Kinderzeitschrift Frösi überlebte die DDR, indem er 1999 zum Namenspaten für einen Club in Chemnitz wurde, der mit einem ähnlichen Ethos ans Werk geht. Das Atomino ist ein kultureller Kraftspender für die Stadt. In diesem Jahr zieht der Club (wieder einmal) um, die neuen Räume in einer wundervoll abgerockten Fabrikhalle auf dem Wirkbau-Gelände, etwas südlich der Innenstadt gelegen, werden gerade für die Eröffnung im Herbst hergerichtet.
Bis dahin gibt es noch einiges über das neue Atomino zu bereden – und bei einer solchen Runde darf natürlich Jan Kummer nicht fehlen: Mitbegründer und erster Booker, außerdem Künstler mit Schwerpunkt Hinterglasmalerei, dessen vier Kinder mit ihren bekannten Bands Kraftklub und Blond auch schon die Atomino-Menge zum Hüpfen gebracht haben. Ebenfalls am Tisch: Beate Düber, Ehefrau von Jan Kummer und Mutter von drei der genannten Kinder, Atomino-Besucherin der ersten Stunde und als Schauspielerin, Theaterlehrerin, Kunstvermittlerin in verschiedenen Museen und Malerin ebenfalls für ein gutes Stück des städtischen Kulturlebens verantwortlich. Komplettiert wird unsere Runde durch Maria Tomasa Llera Pérez, die schon im Club war, als sie dort nur Orangenlimo trinken durfte. Heute ist sie die Geschäftsführerin des Atomino.
Beate Dübner (BD) Stimmt. Auch wenn es dann leider doch nicht so viele Leute sind, die diese Freiheiten sichtbar nutzen. In Städten, wo es diese Möglichkeiten nicht gibt, kann man natürlich endlos über Projekte reden. Aber hier in Chemnitz muss man halt dann auch machen. (lacht)
Jan Kummer (JK) Das war schon immer die lustige Beobachtung, dass man in anderen Städten bessere Pläne schmieden kann. Es kommt nie raus, dass es nicht stattfindet. In Chemnitz schon.
BD Schaumschlägerei ist sofort sichtbar!
Maria Tomasa Llera Pérez (MT) Es gibt auch nicht so viel Konkurrenz, wenn man etwas etablieren will. In Städten wie Berlin machen vielleicht 300 oder 400 Leute das Gleiche. Hier sind es viel weniger. Man kennt sich und kann direkt einsteigen.
JK Na, ganz ohne Konkurrenz wäre es langweilig. Aber es ist eine freundliche Konkurrenz. In Chemnitz ist die Gentrifizierung noch ein Fremdwort, und das ist eben ein Vorteil: Man kann entspannter leben. Es fehlt der blutige Ernst, den man mitunter anderswo hat, wenn man als Künstler ein Atelier erst mal bezahlen muss.
JK Dieser Geist prägt auf jeden Fall die kulturelle Geschichte der Stadt. Weil es hier keine Kunsthochschule gab. Chemnitz hat sich stets als Industriestadt definiert. Und was aus der Kunstecke kam, das war immer viel Autodidaktentum. Heute würde man das freie Szene nennen. Das war schon zu DDR-Zeiten so und daher ist man so ein bisschen sozialisiert in diesem Geist. Was wir zu Anfang hatten: Wenn man es nicht selber macht, macht es kein anderer.
BD Ich habe ja im Theater als Schauspieler gearbeitet. Bemerkenswerterweise war das künstlerische Niveau in der Stadt sehr hoch. Ulrich Mühe hatte sein erstes Engagement in Chemnitz. Frank Castorf war hier. Ich war auch Teil einer freien Gruppe, die nannte sich „Dramatische Brigade“. Die war in der DDR natürlich gar nicht frei: Wenn wir der Staatssicherheit unangenehm aufgefallen wären, hätte man uns sofort gecancelt.
BD Das war so in der Wendezeit. Wir hatten einen kleinen Raum, es kamen meist 30 bis 40 Zuschauer, vom Professor bis zum Arbeiter. Wir haben zum Beispiel ein Stück von Christoph Hein gespielt, Stullen geschmiert und danach mit dem Publikum gegessen und diskutiert. Da war man gut im Gespräch.
JK Einige von den Theaterleuten sind damals regelrecht in die Provinz versetzt worden. Das war für uns natürlich wunderbar! Und die konnten sich hier auch freier entfalten als anderswo, da Karl-Marx-Stadt als Kulturstadt nicht so ernst genommen wurde von den staatlichen Organen. Zumindest hatte man den Eindruck. In der bildenden Kunst und in der Musik war das ähnlich. Da war man immer so ein bisschen unter dem Radar. Und da es hier ja keine Kunsthochschulabsolventen gab, war der Künstlerverband fast darauf angewiesen, Autodidakten aufzunehmen. Das war ziemlich einzigartig im Osten.
BD Wenn man in einer Stadt mit Kunsthochschule wohnt, traut man sich wahrscheinlich gar nicht, als Autodidakt zu beginnen, weil man sich fragt, ob man nicht erst studieren muss. Aber da es hier keine Schule gibt, taucht die Frage nicht auf. Und es ist auch gar nicht komisch, sich trotzdem mit Kunst auseinanderzusetzen.
JK Da lässt sich der Bogen zum Atomino schlagen: Als das vor über 20 Jahren gegründet wurde, hatte keiner von uns eine Ahnung, wie so ein Club eigentlich geht. Aber man konnte es hier gemütlich ausprobieren, weil die Fixkosten nicht so hoch waren wie in anderen Städten.
BD Es gab einen Vorläufer: die Bar Dr. Dr. Bartholdy – benannt nach dem Hochstapler, der sich als Arzt ausgegeben hatte. Die Bar hatte ein Freund von uns gemacht, der kam aus Hamburg und wollte gern in Chemnitz hochklassige Getränke anbieten, gemixt auf New Yorker Niveau …
JK Der Kontrast war fantastisch: Eine Fabrikruine, man steigt in den Keller runter und findet eine exquisite Bar. Auch mit einem eisernen Musikprogramm. Keine Kompromisse. Und wie das so ist, wenn man keine Kompromisse macht: Nach einem Jahr hat er gemerkt, ganz so geht es nicht.