Marianne von Goldschmidt-Rothschild

Innerlich frei

Meisterwerke der französischen Moderne, die heute in Museen diesseits und jenseits des Atlantiks verstreut sind, begleiteten die abenteuerliche Lebensgeschichte der Baronin Marianne von Goldschmidt-Rothschild

Von Dorothea Zwirner
11.08.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 216

Auf einer altgoldenen Tapete hängt das berühmte Gemälde „Die Arlesierin“, das erste der sieben Porträts, die van Gogh von Madame Ginoux, seiner Wirtin in Arles, gemalt hat. In provenzalischer Tracht am Tisch sitzend, die dunklen Haare kunstvoll aufgesteckt, den Kopf im Dreiviertelprofil nachdenklich auf die Hand gestützt, vor ihr liegen Schirm und Handschuhe wie zum Aufbruch bereit. „Der Hintergrund ist helle Zitronenfarbe, das Gesicht grau, das Gewand schwarz und ganz, ganz preußischblau“, so beschrieb es Vincent van Gogh in einem Brief an seinen Bruder Theo.

Unter der Arlesierin in ihrem schweren Goldrahmen sitzt die junge Eigentümerin mit langer Perlenkette und Wasserwelle, die schlanken Beine mit Riemchenschuhen übereinandergeschlagen, den Blick fest auf die Kamera gerichtet. So präsentiert sich die Berliner Sammlerin und Salonnière Marianne von Goldschmidt-Rothschild im Jahr der Weltwirtschaftskrise 1929 für die Kulturzeitschrift Der Querschnitt („das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte“).

In dem Untertitel des Zeitgeistmagazins schwingt bereits mit, wie relativ das Verhältnis von Aktualität und Ewigkeit bisweilen sein kann. Während der Ewigkeitswert von van Goghs Meisterwerk außer Frage steht, ist die bewegte Lebensgeschichte seiner selbstbewussten Eigentümerin weitgehend unbekannt. Im Brennglas der Provenienzgeschichte des Gemäldes entfalten sich Glanz und Elend ihrer Lebensgeschichte, die hier erzählt werden soll.

Henri Toulouse-Lautrec
Henri Toulouse-Lautrecs Pastell „Im Bett: der Kuss“ von 1892. © Christie's Images/Bridgeman Image

Marianne war gerade 22 Jahre, als sie das Bild im Juni 1914 im Kunstsalon Cassirer entdeckte – und erwarb. Die Ausstellung war das wichtigste Ereignis im Berliner Kunstleben dieses Sommers, die Presse überschlug sich, das Publikum strömte. Mit 150 Werken aus allen Schaffensphasen war es nach der großen Stedelijk-Retrospektive in Amsterdam 1905 die bis dahin umfassendste und wichtigste Ausstellung van Goghs und die Krönung von Paul Cassirers bisheriger Galeriegeschichte. Die „Kartoffelesser“, die „Sonnenblumen“, der „Sämann“ – ein Hauptwerk reihte sich ans andere. Alle großen Privatsammlungen hatten Werke geliehen, auch zwei Museen, und nur wenige Werke waren überhaupt verkäuflich.

Von der „Arlesierin“ hingen gleich drei Fassungen in der Cassirer-Schau, zwei davon sehr ähnlich, die sich heute im Musée d’Orsay in Paris und im Metropolitan Museum in New York befinden. Doch Marianne hatte nur Augen für die erste Fassung von 1888, ein kühner Wurf, den van Gogh in nur einer Stunde auf die Leinwand gebracht hatte, wie er seinem Bruder schrieb. Vielleicht hatte Marianne aber auch die Besprechung des berühmten Kritikers Julius Meier-Graefe im Berliner Tageblatt gelesen, der die Unterschiede deutlich herausarbeitete: „Die Sternheim’sche Fassung, das Hauptwerk, ist die vollkommene Vision und die vollkommene Form. Kein Strich, der nicht gefühlt wäre, keine Farbe, die nicht ausschließlich der Interpretation des gewaltigen Eindrucks diente. Nichts wird dem Dekorativen geopfert.“

Das Meisterwerk gehörte Thea und Carl Sternheim, die sich nun schweren Herzens davon trennen mussten. Auch für sie war es 1908 das Schlüsselbild für den Aufbau ihrer bedeutenden Kunstsammlung gewesen, doch finanzielle Gründe zwangen sie nun zum Verkauf. So fiel Thea Sternheims Urteil über die hochvermögende Käuferin eher kritisch aus, zumal sie ein Verhältnis zu ihrem notorisch untreuen Ehemann vermutete. Wer war die junge Frau, die mit 100 000 Mark den damals höchsten Preis überhaupt für ein Werk von van Gogh zu zahlen bereit war?

Marianne von Goldschmidt-Rothschild
Die Sammlerin als Nadja 1929 in Curtz Goetz’ Komödie „Das Märchen“. © Wolff von Gudenberg/ullstein bild

Marianne von Goldschmidt-Rothschild (1892–1973), geborene von Friedländer-Fuld, geschiedene Mitford, geschiedene von Kühlmann, war das einzige Kind des schlesischen Kohlemagnaten Friedrich Viktor von Friedländer-Fuld, der mit seiner holländischen Gattin Milly Antonie Fuld in einem Stadtpalais am Pariser Platz 5 a und einem Landsitz auf Schloss Lanke im Norden Berlins lebte. Mit einem Vermögen von rund 46 Millionen Mark war Friedländer-Fuld einer der reichsten Industriellen seiner Zeit und gehörte wie der Mäzen James Simon, der Hapag-Generaldirektor Albert Ballin, der AEG-Gründer Emil Rathenau, der Kohleunternehmer Eduard Arnold, der Bankier Carl Fürstenberg und der geadelte Paul von Schwabach vom Bankhaus S. Bleichröder zu einer auserlesenen Gruppe jüdischer Berater, die von Zeitgenossen abschätzig als „Kaiserjuden“ bezeichnet wurden. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Erfolge wurde der konvertierte Friedländer-Fuld in den preußischen Adelsstand erhoben und erhielt den Titel des Geheimen Kommerzienrats.

Sein Stadtpalais neben der Französischen Botschaft, mit Marmor-Innenhof, Säulengängen und Rundbögen, elektrischem Fahrstuhl und Lawn-Tennisplatz, hatte er sich nach Pariser Vorbild von Ernst von Ihne errichten lassen, der in Berlin bereits das Bode-Museum und die Staatsbibliothek Unter den Linden gebaut hatte. Für die Ausstattung wurde Wilhelm von Bode als Berater hinzugezogen, um ein angemessenes Ambiente für die Salongesellschaften seiner Frau zu schaffen. Hier trafen sich die angesehensten Mitglieder der Berliner Gesellschaft aus Wirtschaft, Politik und Kultur: Carl Fürstenberg, Walther Rathenau, Richard von Kühlmann, Fürst und Fürstin Lichnowsky, Annette Kolb, Harry Graf Kessler.

So hatte Marianne eine behütete und privilegierte Kindheit zwischen Stadt und Land mit einer englischen Gouvernante, Privatlehrern und Pony. Musisch veranlagt, ambitioniert und sprunghaft verkörperte „Baby“ den Typus der modernen Frau auf der Suche nach kreativer Selbstverwirklichung: „Ich wollte alles werden: Schauspielerin, Malerin, schließlich Künstlerin! Aber nichts als Widerstände. Die Familie vor allem. Dann meine eigene Natur – ich liebte zu viele Sachen – ich lebte zu hoch – kein Projekt das nicht gestorben wäre.“ So beschrieb sie sich im autobiografischen Rückblick auf ihre Kindheit.

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