Zu DDR-Zeiten waren Garagenhöfe beliebte Bastel- und Begegnungsorte. Nun will ein Projekt der Europäischen Kulturhauptstadt die hinter ihren Toren verborgenen Geschichten ans Licht holen
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28.08.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 215
Jeden Sonntag beobachtet Pierre Duske von seinem Fenster aus, wie ein älterer Herr auf den benachbarten Garagenhof in Chemnitz-Kaßberg kommt. Er öffnet das Tor einer der aneinandergereihten grauen Hütten und parkt seinen alten Wartburg 311 Coupé aus, bereit für die wöchentliche Spritztour. Das Ost-Modell genießt inzwischen Seltenheitswert und Kultstatus, genauso wie die Garagenkomplexe aus DDR-Zeiten. Sie waren weit mehr als nur überdachte Stellplätze für Trabant, Wartburg und Lada. Hier wurde geschraubt und geredet, getrunken und gefeiert. Eine skurrile Mischung aus kollektivem Hobbykeller und urbanem Campingplatz, die sich bis heute erhalten hat.
Auch Pierre Duske konnte sich dem speziellen Charme dieses DDR-Überbleibsels nicht entziehen und mietete vor zwei Jahren eine Garage, die wir heute gemeinsam mit ihm besichtigen. Der Unternehmer hat sich sehr gefreut, als seine Heimatstadt den Zuschlag als Europäische Kulturhauptstadt 2025 bekam. Um die Aktivitäten zu unterstützen, stellte er seine Garage dem Team von Chemnitz 2025 zur Verfügung. Rund 40 der kleinen Autohütten befinden sich auf dem verwinkelten Areal. Langsam schiebt Duske das grau-weiße Tor nach oben. Es rattert leise, bis ein dumpfer Anschlag ertönt. Die Garage ist leer geräumt, bereit für ihren kulturellen Einsatz: Hier könnten 2025 kleine Ausstellungen organisiert oder Workshops angeboten werden.
„Garagen gehören zur ganz unmittelbaren soziokulturellen Lebenswelt eines jeden ehemaligen Ostbürgers“, erklärt mir später Stefan Schmidtke, Geschäftsführer und Programmleiter der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 GmbH, deren Aufgabe es ist, die zahlreichen Konzepte und Projekte umzusetzen, mit denen Chemnitz die internationale Jury überzeugte. Eines davon ist das Projekt „#3000Garagen“. Unter Einbeziehung der Menschen vor Ort möchte es die Garagen als Kulturgut würdigen, spiegeln sie doch den anpackenden Geist der Stadt. Der war schon bei ihrer Entstehung in den 1970er-Jahren zu spüren, als die Anwohner in gemeinsamen Wochenendeinsätzen die Komplexe errichteten. Unter dem Kulturhauptstadt-Motto „C the Unseen“ sollen nun Türen geöffnet werden, hinter die man selten schaut. „Es geht darum, Dinge sichtbar zu machen, von denen in ganz Deutschland und ganz Europa keiner so richtig weiß“, erläutert Stefan Schmidtke während unseres Telefongesprächs. Für ihn sind die Garagen ein bislang verborgenes Universum von Macherinnen und Machern, und um die soll es im Kulturhauptstadtjahr 2025 vorrangig gehen.
Doch zunächst muss man mit den Menschen ins Gespräch kommen. „2023 ist unser Recherchejahr“, sagt Ann-Kathrin Ntokalou. Gemeinsam mit Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka und Benjamin Gruner leitet sie das #3000-Garagen-Projekt. Die drei kennen sich von der POCHEN Biennale, die seit 2018 einen Raum für multimediale Kunst in Chemnitz bietet, und sind gut in der freien Szene der Stadt vernetzt. Startschuss für ihr Projekt war vor rund einem Jahr. Damals kamen 110 Architekturstudierende extra aus München angereist, um die Garagen zu dokumentieren und zu vermessen. Gezählt wurden 176 Höfe und circa 22.000 Garagen, deren Bausubstanz und architektonische Besonderheiten akribisch erfasst wurden.
Das Garagenprojekt gehört zu den Flaggschiffen der Kulturhauptstadt-Bewerbung. Neben dem von Alexander Ochs kuratierten Purple Path, einem Kunstweg mit Skulpturen, der sich durch die Region um Chemnitz schlängelt, setzt das Beteiligungsprojekt „Gelebte Nachbarschaft“ auf Nachhaltigkeit in der Stadtgestaltung. In sogenannten Makerhubs entstehen Orte der Begegnung und des Austauschs. Es soll kreativ und bunt werden, alle sind eingeladen, voneinander zu lernen und neue Ideen zu verwirklichen.
Am Nachmittag treffen wir uns am Südbahnhof, um eine weitere Garage kennenzulernen. Ein Schotterweg führt links hinter den Gleisen auf das Gelände der ehemaligen Werkzeugmaschinenfabrik von Bernhard Gläss. Der Kontrast zum aufgeräumten Garagenhof im bürgerlichen Kaßberg könnte nicht größer sein. Verbeulte Autos, Müll und Bauschutt liegen auf dem grauen Platz. Doch dann eröffnet sich zwischen zwei Gebäuden eine grüne Oase, auch bekannt als „Habitat an der Gläss Fabrik“. In dem gepflegten Garten befinden sich mehrere Hochbeete und ein kleiner Teich, in dem sogar Schildkröten leben. Eine Holztreppe führt in eine der alten Maschinenhallen. Das Dach fehlt, doch die alten Stahlträger für die Decke sind noch da. Rechts und links reihen sich exotische Topfpflanzen aneinander, dazwischen stehen Figuren aus Stahl. In dem alten Backsteingebäude fanden bereits Technopartys, Ballettaufführungen und Streichkonzerte statt.
Seit gut 20 Jahren kommt Markus Wabner hierher. Er führt uns in eine große Garage, die er seit seinem Studium mietet. Damals war sie bis oben mit Schrott zugemüllt. Nach und nach hat er sie in eine eigentümlich-gemütliche Mischung aus Wohnzimmer und Partykeller umgewandelt. Das Licht schimmert rötlich. An der rechten Wand ist eine Bar, mehrere Ledersofas stehen in der Mitte, und an der gegenüberliegenden Wand thront eine Musikanlage, die so aussieht, als hätte sie ordentlich Wumms.
Zurück durch die Halle mit den verspielten Stahlskulpturen. Wabner schweißt sie selbst zusammen, ungefähr zwei pro Jahr. Einige der Gegenstände kommen noch aus der alten Fabrik, die anderen hat er in der Umgebung gefunden. Wir befinden uns nun im hinteren Teil des Gebäudes, der so groß ist, dass vier alte Traktoren in ihm Platz haben. Dazwischen reihen sich Wagen mit Autoreifen, Kabel und Schläuche liegen neben Kisten und Paletten.
Die Halle ist in einem schlechten Zustand. Das Dach ist undicht, das Gemäuer marode. Der studierte Maschinenbauer hat geschickte Konstruktionen aus Plastik an den Wänden angebracht, damit es nicht auf seine Utensilien regnet. „Man kann dem alten Gebäude beim Zerfallen zuhören“, erzählt er mit Bedauern. Doch wie viel ist man bereit zu investieren? Die Garagen sind nur gepachtet. Viele Mietverträge werden in den nächsten Jahren auslaufen, denn die kommunalen Grundstücke befinden sich zum Teil in guten Lagen mit städtebaulichem Entwicklungspotenzial. Auch deshalb stehen Diskussionsrunden über die Zukunft der Garagen auf der Kulturhauptstadt-Agenda. Doch jetzt will das Team erst mal möglichst viele Garagentore öffnen und die in ihnen verborgenen Geschichten und Schätze sichtbar machen.
Konzert mit dem Leipziger Duo „Stiehler / Lucaciu“,
Garagenhof Ahornstraße 29, Chemnitz-Kaßberg,
3. September, ab 17:30