Pilze sind formschön, geheimnisvoll und daher ein beliebtes Thema in der zeitgenössischen Kunst. Wir präsentieren die außergewöhnlichsten Exemplare von Cosima von Bonin bis Takashi Murakami
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28.09.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 217
Die Natur, die größte Künstlerin von allen, ist auch eine Bildhauerin. Besonders skulptural geht sie bei den Pilzen vor, die wir im Wald entdecken, sie können rund und kompakt, langstielig fragil oder züngelnd wie Flammen geformt sein. Auch in den Farben sind der Natur keine Grenzen gesetzt. Da Pilze den Tieren näher als den Pflanzen sind und keine Fotosynthese betreiben, fallen manche von ihnen durch ihr geisterhaftes Weiß oder leuchtende Farben auf. Sie können ganz plötzlich erscheinen: Im Konzert des grünen Blätterwalds wirkt die knallrote Kappe des Fliegenpilzes frech wie ein Punk. Würden wir bei der Betrachtung von Pilzen in der Natur eine kunsthistorische Perspektive einnehmen, dann könnten wir beim rundlich elementaren Bovist an ein Werk von Hans Arp denken, beim gepunkteten Fliegenpilz an die Pop Art von Roy Lichtenstein, und bei den feinen Lamellen eines Champignons an Malerei von Agnes Martin.
Diese sichtbaren Pilze an der Oberfläche des Waldbodens sind natürlich nur, sozusagen, die Spitze des Eisbergs. Schon Alexander von Humboldt erkannte ihre „allgemeine Verkettung, nicht in einfacher linearer Richtung, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe“. (Hier kommen uns die „Infinity Nets“ von Yayoi Kusama in den Sinn.) Der junge Biologe und Wissenschaftsphilosoph Merlin Sheldrake legt in seinem Bestseller „Verwobenes Leben“ dar, wie all umfassend Pilze unsere Welt seit Milliarden Jahren beeinflussen. Er beschreibt die mikroskopischen Hefepilze, den kulinarisch heiß begehrten Trüffel, Armillaria, die mit einem Umfang von mehr als zehn Quadratkilometern die größten Lebewesen der Welt sind, zerstörerische Schimmelpilze und für Menschen und Tiere lebenswichtige Pilze in unseren Körpern, in der Luft und vor allem im Boden. Es ist faszinierend, wie ihre Netzwerke kommunizieren und Symbiosen mit anderen Lebewesen eingehen. Der Pilzforschung steht hier noch ein riesiges Feld offen: „Man stelle sich das Erstaunen eines außerirdischen Anthropologen vor, der die moderne Menschheit jahrzehntelang studiert und dann irgendwann feststellt, dass wir so etwas wie das Internet haben.“ In einer vergleichbaren Situation sieht Sheldrake die heutigen Ökologen. Unser gegenwärtiger Zeit geist wird inspiriert von Büchern wie seinem oder Louie Schwartzbergs Dokumentarfilm „Fantastic Fungi“ (2019) und scheint offen für das Wissen über Pilze und ihre Chancen für die Menschheit.
Der Pilz ist ein mehrdeutiges Motiv in unserer Kulturgeschichte. Seine phallische Gestalt kennen wir von archaischen Steinskulpturen aus Guatemala, in Märchenbüchern erinnert der giftige Fliegenpilz am Wegesrand Rotkäppchen an die Gefahren des Waldes, und seit Hiroshima und Nagasaki ist der Atompilz zum viel beschworenen Symbol unsagbaren Schreckens geworden, ja sogar für das drohende Ende der Welt. Die Silhouette dieser Rauchwolke ist aktuell auf unzähligen Plakaten für den Kinohit „Oppenheimer“ zu sehen.
Der Fliegenpilz ist ein Glückssymbol und erscheint zusammen mit Schweinchen, vierblättrigem Kleeblatt und Schornsteinfeger – so putzig er ist, ist er doch sehr giftig. In gewissen Dosen konsumiert, kann er Halluzinationen hervorrufen. Der Künstler Carsten Höller, der auch Biologe ist, beschäftigt sich schon lange mit diesem Phänomen und seiner Verbindung zur Spiritualität. Seine Fliegenpilze zeigte Udo Kittelmann in den Neunzigerjahren im Kölnischen Kunstverein in der Ausstellung „Glück“, spektakulär war die Schau des Künstlers 2010 im Hamburger Bahnhof in Berlin, mit lebenden Rentieren, die im Museum mit Fliegenpilzen gefüttert wurden. So gilt ihr Urin als glücksversprechende Substanz. In Mailand sind allein schon Carsten Höllers riesige Pilzskulpturen einen Besuch der Fondazione Prada wert.
Auch der niederländische Künstler Herman de Vries, Jahrgang 1931, widmet sich seit Jahren dem Studium der Pilze und ihrer psychedelischen Kräfte und integriert die Natur selbst in seine künstlerische Arbeit. Ganz anders beruft sich Damien Hirst auf die medizinische Heilwirkung verschiedener Stoffe, nicht nur der Pilze. Sie klingt bei ihm in vielen Werken in klinisch kalter Aura an, zum Beispiel wenn er Pillen in Vitrinen anordnet. „Mushroom Pie“ zählt zu Damien Hirsts Grafikserie „The Last Supper“, die aus dreizehn Bildern besteht, in Anklang an die Zahl der Teilnehmer beim Abendmahl. Die Komposition orientiert sich am Design, das auf Medikamentenschachteln üblich ist, und zitiert mit ihrer Warenästhetik – rund ein halbes Jahrhundert später – Andy Warhols berühmte Suppendosen der Marke Campbell’s. Auch zu Warhols Serie gehört natürlich eine Pilzsuppe, „Cream of Mushroom Soup“.
Wenn man nur die Augen aufmacht, sind überall Pilze zu entdecken. Sie tauchen seit Jahren im Werk von Cosima von Bonin auf, sei es als Fotografie oder als überlebensgroße Stoffskulptur. Kürzlich gab es gläserne Pilze mit unschuldigen Gesichtern von der österreichischen Künstlerin Melli Ink in der Galerie Michael Fuchs in Berlin zu sehen, und im Shrig Shop in London verkauft der Künstler David Shrigley unter anderem sein lapidares Pilz Plakat.
Besonders drollig sind die vielen Pilze, die der japanische Künstler Takashi Murakami, Jahrgang 1962, in poppig bunten Farben immer wieder mit Augen wie Manga Figuren im Spielzeugladen dar stellt. Doch lassen sich seine Werke als manische Vervielfältigung und Verniedlichung des Atompilzes interpretieren, der Japan und die ganze Welt für immer verändert hat. Der Pilz trägt also auch als Motiv der Kunstgeschichte jede Möglichkeit in sich, vom lebensprallen Phallussymbol über die Glücksverheißung bis zum Drohbild des menschengemachten Untergangs.
Teil 1: Kreativität und Bewusstseinserweiterung mit Magic Mushrooms
Teil 2: Pilze als Motiv und Baustoff in Architektur und Design
Teil 3: Mykologie in Illustration und Buchkunst