Vom handglasierten Teller bis zur robusten Industriefliese – Keramik begleitet uns in allen Lebenslagen. Unsere Stilkolumne gibt Tipps für ein kunstvolles Heim. Folge 24: die facettenreiche Welt der Keramik
ShareKaum ein Werkstoff lässt sich so herrlich beispielhaft als Lieblingsthema dieser Kolumne besprechen wie Keramik. Denn sie ist allgegenwärtig, banal oder genial. Die älteste bekannte Keramik ist die Venus von Dolní Věstonice. Sie wurde vor 30.000 Jahren von Mammutjägern im heutigen Tschechien gefertigt. Keramik finden wir weltweit und seit jeher in jeder Kultur, im Kunsthandwerk und der bildenden Kunst, aber mit der Moderne auch der Industrie. Porsche beispielsweise verwendet industriell hergestellte Keramik für die Bremssscheiben. Unterschieden wird dabei in Grob- beziehungsweise Baukeramik, Feinkeramik und technische Keramik. Die Übergänge zwischen diesen Welten sind erstaunlich und fließend. Keramik begleitet uns in allen Lebenslagen und Lebenskreisläufen. Wir nehmen unsere Nahrung von Keramik auf und wir geben sie in Keramik ab. Und schon da lässt sich aus dem vollen Spektrum wählen: Von Woolworth über Wedgewood bis eben zu Marcel Duchamp.
Ein typisches deutsches Haus beginnt am Schornstein mit einem Ziegel aus gebranntem Ton und endet im Keller mit der letzten Keramiksicherung im Stromkasten. Dazwischen spielt sich also eine Bandbreite der Produkt- und Einsatzmöglichkeiten ab, wie sie vergleichbar nur in der Fleischverarbeitung beim „Nose-to-Tail“ zu finden ist. An Berliner Wohnhausfassaden gibt es zudem seit 1985 eine schöne keramische Tradition: Die Porzellanmanufaktur KPM fertigt weiße Gedenktafeln mit blauer Schrift für Berliner Lichtfiguren an, stets gestaltet vom Grafiker Wieland Schütz, der passenderweise ausgebildeter Porzellanmodelleur ist.
Jemand, der genau diese Bandbreite künstlerisch gefasst hat, ist der Engländer Simon Pettet. Erst 19 Jahre alt und gerade in London zu Besuch, zog er mit Dennis Severs zusammen. Severs hatte aus seinem Haus ein Gesamtkunstwerk geschaffen und es bis ins Detail so eingerichtet, als würde dort noch immer eine Weberfamilie aus dem 18. Jahrhundert leben. Ab 1983 bis zu seinem frühen Tod zehn Jahre später ergänzte Pettet das Werk seines Mentors (der sechs Jahre nach ihm starb) mit genialen Keramikarbeiten: witzige, elegante Stücke im Stile Delfter Porzellans, Rasierschalen, Spardosen, Teller, Obelisken. Sein Erfindungsreichtum und seine Beherrschung der historischen Technik ermöglichten es Pettet, über das Zitat hinauszugehen und etwas Neues zu schaffen, ohne sich von der volkstümlichen Tradition abzuwenden. Sein subtiles Meisterwerk ist ein Kamin, der auf den ersten Blick aussieht wie die anderen im Haus. „The Gentrification Piece“ hat er ihn genannt. Bei näherer Betrachtung nämlich enthüllt jede Kachel das hintersinnige Porträt einer Persönlichkeit oder eine amüsante Begebenheit des damaligen Spitalfields.
Der Künstler Simon Mullan arbeitet hingegen genau anders herum und verwendet oft fertige Industriefliesen und nutzt deren demokratisch unhierarchische Allgegenwärtigkeit in Arbeiten wie beispielsweise seine Möbelskulptur „Popularis (Tresen)“, die 2020 vier Monate lang am Rosa-Luxemburg-Platz auf einer Grünfläche stand. Eine Bar für alle aus einem Material für jeden. Geradezu künstlerisch ist auch die „Simone de Beauvoir des Interieurs“ und Königin des Schachbrettmusters, Andrée Putman, mit Industriefliesen aus Keramik umgegangen.
Wieder weg von der Industrie, beobachten wir mit großem Dekorationsappetit in letzter Zeit, dass immer mehr Keramikgefäße und Teller in Kunstausstellungen auftauchen, wobei wahrscheinlich Pablo Picasso schon ab 1947 für das Medium den Durchbruch brachte. Über 3000 Keramikarbeiten hat er insgesamt hinterlassen. Ai Weiwei spielt in seinen schönsten Arbeiten mit klassisch chinesisch anmutendem Porzellan, das aber in den blau-weißen Darstellungen nach dem politischen Preis für diese Schönheit fragt: „Wie konnte sich in China unter kaiserlicher Gewaltherrschaft handwerkliche Raffinesse und Kunstfertigkeit derart entwickeln und entfalten?“ Die handgefertigten und aufwändig glasierten Teller der Künstlerin Marion Benoit hingegen hadern aufs Romantischste mit der Annahme, Keramik sei ein „weibliches“ Medium. Rosemarie Trockel zerhaut in ihren Tonarbeiten diesen Verdacht seit jeher.
Den weiteren Umgang mit Tellern abseits des Tischs zeigen die deutsche Variante — das Aufstellen wertvoller Porzellane auf mitgelieferten Kleinstaffeleien — und die englische: Kaum ein Landhaus, in dem keine Tellersammlung das viereckige Einerlei aus Bildern, Regalen, Fenstern, Türen unterbricht und abrundet. Dafür müssen die Teller keine Kunstwerke sein. Auch die Editionen einschlägiger Porzellanhersteller, Künstlerteller von Warhol bis Versace, sind nicht nötig. Einfache Teller holen ebenfalls Musik an die Wand.
Eine Freundin von uns bringt sich seit Jahren von jeder Reise einen blau bemalten oder glasierten Porzellanteller vom Flohmarkt mit und hängt ihn dann an einer den Tellern dieser Welt gewidmeten Wand auf. In letzter Zeit reist sie sehr viel und muss wahrscheinlich anbauen oder die neuen Funde doch wieder auf den Tisch stellen. Den Effekt macht natürlich die Wiederholung der selben Formen und Farben bei gleichzeitig abwechselnden Motiven. Dem gleichen Prinzip kann man auch mit Gefäßen nachgehen, wenn man sie auf Wandkonsolen stellt und die Wand sogar verspiegelt. So wurde in zahllosen Schlössern mit den keramischen Artefakten aus Delft oder Meissen, Sèvres Preußen oder Japan und China angegeben.