Abstrakte Bilder mit optischen Effekten sind die Spezialität von Bridget Riley. Seit 40 Jahren malt sie auch auf die Wand. Nun hat sie in Rom ihr erstes Deckengemälde geschaffen, das an Giottos berühmte Fresken denken lässt.
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05.10.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 218
Das Blau ist der Schlüssel. Unter den bunten Streifen, die sich über die Decke der Eingangshalle in der British School at Rome ziehen, fallen die blauen am stärksten auf. Sie überspannen das Gewölbe nicht nur. Sie öffnen es auch. Mit ihrer Leuchtkraft saugen sie die Blicke auf und leiten diese sogleich weiter ins Imaginär-Unendliche: Der Geist transzendiert die Architektur.
Als Bridget Riley im Mai dieses Jahres und nur wenige Tage nach ihrem 92. Geburtstag der Eröffnung ihres Werks „Verve“ im Rom beiwohnte, zogen die Kritiker Vergleiche zu Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle. Doch in ihrer ätherischen Reinheit hat Rileys Abstraktion mehr gemein mit jenen Sternenkonstellationen auf blauem Grund, die an den Decken mancher mittelalterlichen Kirchen zu finden sind, oder mit Giottos berühmten Fresken in Padua. Das Blau geht bei „Verve“ über in Gelb, in Weiß, wieder in Blau, später auch in Lila und in ein bläuliches Rot, das so matt schimmert wie ein Sonnenuntergang. „Schaut man nach oben, gewähren die Farben des Himmels einen kleinen Einblick in die Natur in ihrer vielversprechendsten und heitersten Stimmung“, lautete die Erklärung der Künstlerin bei der Vernissage. Interviews gibt Riley ansonsten keine mehr, verständlich angesichts ihres Alters. Umso bemerkenswerter, dass sie sich mit ihrem ersten Deckengemälde an eine neue Herausforderung gewagt hat. Die 1911 errichtete British School at Rome, die als Wohnsitz für Stipendiatinnen und Stipendiaten mit künstlerischen oder kulturellen Forschungsprojekten dient, bietet einmal im Monat Führungen zu „Verve“ an. Die nächsten online buchbaren Termine dafür sind der 28. September und der 19. Oktober.
Es lohnt sich tatsächlich, einmal eingehender die Rolle der Wandarbeiten in Rileys Œuvre zu betrachten. In ihrer schieren Größendimension intensivieren sie einige Aspekte im Schaffen der 1931 in London geborenen Künstlerin. Man nehme etwa die „Composition with Circles 5“ (2005), die der Akademie der Künste in Berlin gehört: Blickt man längere Zeit auf diese Anordnung sich gegenseitig überlagernder Kreise, scheinen die Formen in eine Strudelbewegung zu geraten. Auch blitzen helle Lichter auf den Kreislinien auf. Diese optischen Illusionen erinnern an Rileys frühe Schwarz-Weiß-Bilder aus den Sechzigerjahren, in denen malerische Variationen in Linienmustern oder Abweichungen in Rastern geometrischer Formen die Eindrücke von Räumlichkeit und Bewegung hervorrufen. Op-Art nennt man diese Version der ungegenständlichen Kunst. Was Riley an dem Begriff stets gestört hat, ist der Beiklang der Unterhaltsamkeit: „In Wirklichkeit waren die Schwarz-Weiß-Gemälde der Versuch, etwas über Stabilität und Instabilität zu sagen, über Gewissheiten und Ungewissheiten“, schreibt sie 1988 in ihrem Essay „Die Erfahrung der Malerei“. Und dieses Gefühl der Instabilität potenziert sich natürlich immens, wenn das Werk – so wie bei „Composition with Circles 5„ – über siebeneinhalb Meter in die Höhe ragt.
Die strudelnden Kreise waren in diesem Sommer auch in der retrospektiv angelegten Ausstellung „Bridget Riley. Wall Works 1983–2023“ der Galerie Max Hetzler in Berlin zu sehen. Die Schau verdeutlichte, wie lange schon Wandarbeiten Rileys Karriere begleiten. Die erste entstand 1983 auf Einladung des Royal Liverpool Hospitals. Die Künstlerin berichtete ein Jahr später in einem Vortrag, dass sie die Aufgabe, eine Dekoration für die Gänge des Krankenhauses zu finden, überfordert hatte – bis sie ausgerechnet bei einem Besuch in den uralten Grabkammern des Nildeltas auf die Lösung kam. In den Ausschmückungen dieser Kammern hätten die ägyptischen Künstler „Ein Gefühl von Sonnenlicht, Wohlbehagen und Vergnügen heraufbeschworen“, so Riley. „Natürlich spielte die Farbe dabei eine wichtige Rolle. Die alten Ägypter hatten eine feste Palette. Mehr als 3000 Jahre lang verwendeten sie dieselben Farben – Türkis, Blau, Rot, Gelb, Grün, Schwarz und Weiß.“ Für das Royal Liverpool Hospital adaptierte die Künstlerin diese Farben in einem Streifenmuster, das sich mit der visuellen Dynamik eines vorbeizischenden Rennwagens durch die Gänge zog. Seither hat sie ihre „ägyptische Palette“ vielfach eingesetzt, zuletzt bei ihrem Deckengemälde in Rom.
Interessanterweise fand Riley erst zu ihrem Stil, als sie im Jahr 1960 Gemälde von Georges Seurat kopierte und dann seine Technik in eigenen Landschaftsgemälden umsetzte. Man könnte das fast ahnen, wenn man heute ihre Arbeiten mit vielfarbigen, auf der Wand verteilten Punkten sieht, wie „Messengers“ (2019) in der National Gallery in London. Und doch handelt es sich selbstverständlich nicht um Pointillismus in Zoom-Vergrößerung. Den Unterschied hat die Künstlerin selbst 2007 in ihrem Essay „Seurat als Mentor“ klargestellt: “Er wollte die Wahrnehmung von Farbe in der Natur wiedergeben, indem er sie isolierte und ihre Bestandteile wieder zusammensetzte. Ich dagegen wollte die aktive Rolle der Farbe in der Wahrnehmung unmittelbar auf der Leinwand freisetzen und gestalten.“
Riley strebt nach etwas, das sie als „verstecktes oder verborgenes Bild“ bezeichnet. Diese Formulierung passt ziemlich gut zu den optischen Eindrücken, die sich beispielsweise bei „Cosmos“ (2017) einstellen, einer Wandarbeit die zur Sammlung der neuseeländischen Christchurch Art Gallery gehört und ebenfalls in Berlin gezeigt wurde. Wandert der Blick für eine Weile über dieses Raster aus Punkten in mattem Violett, Hellgrün und Rosa, spielen sich die verrücktesten Dinge ab: Die Punkte beginnen, sich zu bewegen, wobei die violetten Konstellationen ihre anders kolorierten Nachbarn zu attackieren scheinen. Fokussiert man dagegen auf die grünen Punkte, weicht nach und nach die Farbe aus ihnen. Sie werden dunkler und verwandeln sich in violette Punkte. Das Grün ist gänzlich aus dem Bild verschwunden.
Bei „Rajasthan“ (2012) wiederum streiten die grünen und die orangen Flächen um die Dominanz im Vordergrund und erzeugen dabei die Illusion von Tiefe, obwohl das Bild völlig plan gemalt ist. Das Werk kann man in der Staatsgalerie Stuttgart antreffen, es war unlängst aber auch nach Berlin ausgeliehen. Was die Frage aufwirft, wie das sein kann – dasselbe Wandbild an zwei Orten? „Die Wandarbeiten sind alle Unikate. Bridget Riley hat das Recht auf eine Exhibition Copy, aber nur im Rahmen einer Ausstellung, wobei die Leihgeber informiert werden“, sagt Kim Klehmet, Direktorin der Galerie Max Hetzler. Klehmet arbeitet mit der Künstlerin zusammen und kann erzählen, dass diese bei den Wandbildern nichts dem Zufall überlässt: Die Dimensionen jedes Werks sind genau festgelegt. Wer eines erwirbt, erhält ein Zertifikat und kann es ausführen lassen – aber nur von den dafür ausgewählten Assistentinnen und Assistenten der Künstlerin, die auch die speziell angemischten Farben verwenden. Die Arbeiten mit den sich überlagernden Kreisen etwa malt immer dasselbe Team aus der Schweiz. Und doch: Trotz all dieser exakten Planung bleibt das Seherlebnis letztlich so unvorhersagbar wie unerklärlich. „Verstehen ist nicht alles“, hat Riley einmal gesagt: „Das Unberechenbare hat einen Platz im Leben, besonders bei Künstlern.“